Unendlicher
Erwartung voll trat ich am 13. Oktober die Reise an. In
Heidelberg war grosser Empfang und ein paar Stunden
Aufenthalt. Am Abend setzte ich die Reise über
Frankfurt und Kassel weiter fort. Die Nacht war kalt, der
Wagen ungeheizt, die Scheiben dick mit Eis
überzogen, als der Morgen graute. Auch der
mitgenommene Rotwein versagte schliesslich. Bei
Tagesanbruch kamen wir durch Nordhausen; dort entdeckte
ich die erste Windmühle, die sich gespenstisch vom
Himmel abhob. Bei Strassfurt fielen mir die zahllosen
Bohrtürme und Fabrikschornsteine auf, bei Magdeburg
enttäuschte mich der Anblick der Elbe, zwischen
Brandenburg und Potsdam überraschte die
abwechslungsreiche Landschaft. Auf dem Bahnhof
Friedrichstrasse war die Reise zu Ende.
Berlin
war mir keineswegs so fremd, wie man denken könnte.
Über die Universität hatte ich schon viel von
Freunden gehört, die vor mir dort gewesen waren.
Durch Voigts Schilderungen mitternächtlicher
Wanzenjagden war ich auf allerhand intime Erlebnisse
vorbereitet. Über Theater und Konzerte, Museen und
Ausstellungen hatte ich durch das Berliner Tageblatt und
andere Leitsterne der öffentlichen Meinung seit
Jahren so viel Licht empfangen, als ob ich seit Jahren in
der Stadt gelebt hätte. Auch die Namen der Strassen
und Plätze waren mit geläufig und ein Stadtplan
lieferte die Grundlage für weitere Orientierung. Ein
Zimmer hatte ich bald gefunden; es befand sich in einem
neuen Haus der Auguststrasse und war erfreulicherweise
wanzenfrei. Da ich gewöhnlich nicht vor 9 Uhr abends
nach Hause kam, konnte ich auf Heizung verzichten;
schlimmstenfalls behielt ich den Mantel an, und heizte
innerlich mit Kakao.
Nach
Erledigung der Anmeldung sah ich mir die Linden an. Von
den Bäumen war ich schwer enttäuscht, das
architektonische Bild der stolzen Strasse imponierte mir.
Den Nachmittag benützte ich noch zu einem
ausgiebigen Besuch des Aquariums. Es lag an der Nordseite
der Linden, gegen das Brandenburger Tor zu, und galt als
besondere Sehenswürdigkeit. Sein Tierbestand
beschränkte sich nicht auf das, was im Wasser lebt;
man sah auch Vögel aller Art, besonders rosenrote
Kakadus, dann fliegende Hunde, Halbaffen und ganze Affen,
als besondere Attraktion einen Schimpansen von fast
menschlicher Gesittung. Am Abend fasste ich das Erlebte
in einem Reisebericht von acht Seiten zusammen. Ich hatte
versprochen, über alles nach Hause zu schreiben, und
brachte es bis Ende Februar auf einen Dutzend Briefe, die
alle acht bis sechzehn Seiten Umfang hatten. Sie
würden einen Baedeker durch das Berlin vor
fünfzig Jahren darstellen, wenn ich sie herausgeben
wollte.
Schon
der zweite Brief enthält eine begeisterte
Beschreibung des Ethnologischen Museums. Es ist das erste
und einzige dieser Art überhaupt, heisst es da; es
enthält, soweit bis jetzt zugänglich, die Funde
Schliemanns bei seinen Ausgrabungen in Troja, die in
Preussen gemachten Funde aus der Stein- und Bronzezeit,
ferner Kunst- und Gebrauchsgegenstände, Waffen,
Schmuck, Objekte der religiösen Verehrung von allen
Völkern Afrikas, Australiens, Asiens und Amerikas.
Sie birgt die Sammlungen von Nachtigal, Schweinfurth,
Junker, Wissmann und vielen anderen Reisenden, wie die
von unseren Kriegsschiffen aus Polynesien mitgebrachten
Gegenstände. Noch nicht zugänglich sind die
Sammlungen aus Indien, China und Japan, doch lassen
einige Schränke voll jetzt schon ausgestellter
Kunstgegenstände ahnen, zu welch unglaublicher
Vollendung die Völker Ostasiens ihre Kunstfertigkeit
entwickelt haben ... Man müsste den ganzen Katalog
durchstudieren und mindestens zehnmal viele Stunden lang
im Museum zubringen, um einen wirklichen Gewinn zu haben
und die Anbahnung eines Verständnisses für alle
diese Fragen mitzunehmen. Ich beneide die Gelehrten, die
berufen sind, mit Hilfe dieser Sammlungen nach und nach
eine Kultur- und Entwicklungsgeschichte der Menschheit
aufzubauen. Welche umfassenden Kenntnisse jeder Art,
Kenntnis der Sprachen und Sitten, der Religion und der
Kultur, der natürlichen Beschaffenheit der Wohnsitze
aller dieser Völker gehört nicht
dazu!
Für
einen Mathematiker war das eine recht bedenkliche
Begeisterung. Wenn sie bei allen anderen Museen in
gleicher oder gar gesteigerter Form wiederkehrte, was
sollte dann noch aus dem Studium werden? Einstweilen,
solange ich frei über eine Zeit verfügen
konnte, durchwanderte ich die Strassen, Plätze und
Parkanlagen, um wichtige Gebäude und Denkmäler
kennenzulernen. Mein Hunger nach sachlicher Belehrung und
neuen Anschauungen führte mich überall hin: in
die Zentralmarkthalle so gut wie in den Zoologischen
Garten, das Zeughaus und das Ägyptische Museum, in
Präuschens Anatomisches Museum und Kastans
Panoptikum, in die naturwissenschaftlichen Sammlungen und
in die Museen für Kunst und Kunstgewerbe. Mit den
Berichten über das Gesehene, die sich über die
Briefe verteilen, mischen sich Beobachtungen über
Verkehrsverhältnisse, Strassenleben,
Bevölkerungstypen, Ess- und Trinksitten,
Geschäftsauslagen, Weihnachtsmarkt, kurz alles, was
zu Hause interessieren konnte, und in gleicher Weise
pflegte ich über den Besuch von Konzerten, Opernhaus
und Theater oder über den Inhalt von Vorträgen
zu schreiben. Erlebnisse ungewöhnlicher Art,
über die ich ausführlicher berichtete, sollen
auch hier ihre Stelle finden.
Mitte
November stattete der Zar Alexander III. dem alten Kaiser
einen Besuch ab. Ich kam gerade vom Essen und wollte am
Opernplatz die Linden überschreiten, konnte aber
nicht weiterkommen, weil ein ungeheures Aufgebot von
Schutzleuten zu Fuss und zu Pferde den Raum zwischen
Kaiser-Palais und altem Schloss abgeriegelt hatte. Der
weitere Platz vor der Universität und dem Zeughaus
ist wie leer gefegt. Niemand darf wagen, einen Schritt
vorwärts zu tun, Bekannte und Unbekannte sprechen
leise miteinander. Plötzlich sprengen zwei Gendarme
vor, es folgt ein Vorreiter, dann die Galakutsche, in
der, in einen grauen Mantel gehüllt, mit seinem
Adjutanten der Zar sitzt, ein Riese von Gestalt,
rotbärtig, finster, wie man sich einen Zaren
vorstellt. Nach kurzem Besuch jagt der Wagen wieder
zurück, die Linden entlang zur Russischen Botschaft.
Ein paar schwache Hoch-Rufe unterstreichen nur das eisige
Schweigen der Zuschauer.
Im
Brief folgen noch Bemerkungen über die Szenen, die
sich an anderen Tagen vor dem Kaiser-Palais abspielen,
wenn sich der alte Herr beim Aufziehen der Wache am
Fenster zeigt, und Betrachtungen über das
düstere Verhängnis, dass der Kronprinz, die
Hoffnung des freisinnigen, unabhängigen Teiles
unseres Volkes, rettungslos verloren ist. In einem
anderen Brief finde ich auch bissige Bemerkungen
über den Prinzen Wilhelm und seine Beziehungen zu
Stöcker.
Über
die Weihnachtsfeiertage wurde ich von G. Thimann, einem
an der Technischen Hochschule jüngeren
Vereinsbruder, mit dem ich mich öfters traf, auf das
Gut seiner Eltern, das westlich von Küstrin im
Oderbruch lag, eingeladen. Er hatte mir manches von dem
Leben auf den grossen Gütern erzählt, und ich
nahm die Einladung gerne an. Bisher hatte ich meine
Ansichten über die Agrarier zumeist aus dem Berliner
Tageblatt und anderen trüben Quellen geschöpft;
nun würde ich ja Gelegenheit haben, Exemplare dieser
Menschensorte aus nächster Nähe kennenzulernen.
Ich sollte mit dem Wagen an der Station Golzig abgeholt
werden, musste aber längere Zeit warten. Es lag
tiefer Schnee und war bitter kalt. Ein Eingeborener, der
sich mit heissem Grog anwärmte, liess auch für
mich ein Glas kommen; es war unmöglich, seiner
freundlichen Aufforderung nicht nachzukommen.
Endlich
erschien auch, von einem älteren Bruder meines
Freundes gelenkt, ein Wagen mit zwei Pferden, Ich wurde
in Decken gepackt, verkroch mich in meinen Havelock und
nun ging's im Schneegestöber über die endlose
Ebene dem Hofe zu. Mit grosser Herzlichkeit empfangen,
lernte ich beim dampfenden Kaffee die Familien kennen, am
anderen Tag wurde mir der Betrieb auf dem Gut gezeigt,
Die Besitzer, der Vater ein Fünfziger, die Mutter
etwas jünger, machten auf mich einen gewinnenden gut
bürgerlichen Eindruck. Von den vier Söhnen war
der Älteste Pfarrkandidat, der zweite, der mich
abgeholt hatte, sollte später das Gut
übernehmen, der jüngste besuchte in Frankfurt
an der Oder die Realschule. Töchter waren keine
vorhanden, aber ein Graupapagei, unermüdlich im
Sprechen, Pfeifen, Nachahmen von Tierstimmen, konnte auch
noch zur Familie gezählt werden.
Das
geräumige, behaglich eingerichtete Wohnhaus schloss
mit langgestreckten Scheunen und Ställen einen
weiten viereckigen Hof ab. Acht Pferde und fünf
Füllen, doppelt soviel Hühner mit
entsprechendem Nachwuchs, ein Stier, eine Herde Schafe
und Schweine, Geflügel aller Art, Hof- und Jagdhunde
bildeten dass lebende Inventar. Wagen und
landwirtschaftliche Maschinen standen in grosser Zahl in
besonderen Schuppen, unermesslich waren nach meinen
Begriffen die in den Scheunen aufgespeicherten
Erntevorräte. Ich liess mir über alles
Mögliche Auskunft geben und konnte auch von den ganz
andersartigen Verhältnissen in meiner Heimat
erzählen. In den Fragen der Viehzucht war ich
allerdings schwach beschlagen, vom Obst- und Gartenbau
wusste ich eher etwas Neues zu sagen.
Am
Samstag Nachmittag half ich den stattlichen Christbaum
schmücken. Gegen Abend machten wir uns auf den Weg
nach Zechin, um vor der Bescherung noch an einer
Abendandacht teilzunehmen; nur die Mutter blieb zu Hause,
da sie den Weihnachtstisch zu richten hatte. Wir mussten
im Gänsemarsch einen ausgetretenen Pfad im Schnee
gehen, weil der grösste Teil des Wegs durch
grabentiefe Wagenspuren und Löcher ungangbar war.
Der Chorraum der kleinen Kirche war mit zwei
Christbäumen geschmückt, die Gemeinde sang, so
gut sie konnte, der Pastor tat sein Möglichstes, die
Herzen zu erwärmen. Am Bescherungsabend lernte ich
allerhand fremde Bräuche kennen; vom Julklapp hatte
ich noch nie gehört.
Für
den Weihnachtstag waren die Brüder Thimann mit mir
zu einem befreundeten Gutsbesitzer eingeladen. Als wir
nach fast einer Stunde Wagenfahrt in strahlender Sonne um
vier Uhr anlangten, fanden wir die zahlreiche
Gesellschaft noch beim Essen versammelt: den verwitweten
Besitzer, eine Grossmutter und eine Tante, die dem
Haushalt vorstanden, drei Töchter zwischen 15 und 23
Jahren, die ebenfalls im Hause tätig waren, drei
Jungen von 8 bis 13 Jahren und einen Einjährigen,
der in Stettin diente und über die Feiertage nach
Hause gekommen war. Mit weiteren Verwandten und Freunden
waren gegen zwanzig Personen versammelt, als wir kamen.
Am meisten eine Dame aus Chemnitz fiel mir durch ihren
scheusslichen Dialekt auf die Nerven, und ein
Gutsbesitzer, der mit seinem roten, brutalen Kopf und
seinen ungeschlachten Formen den Typus des Agrariers
darzustellen schien.
Die
Unterhaltung war sehr laut und ungezwungen, der Wein
hatte die Köpfe erhitzt und die Zungen gelöst.
Ich konnte allerhand politische Bekenntnisse und
Grundsätze kennen lernen, die man sonstwo nicht zum
besten gegeben hätte. "Frech muss man sein, sich
vordrängen und Ansprüche machen, merken Sie
sich das für die nächste Zukunft." belehrte der
Alte die anwesende Jugend. Nachdem die Gesellschaft sich
erhoben hatte, wurde in einem anderen Zimmer Kaffee
serviert; wir bildeten einen weiten Kreis um ein
Tischchen und balancierten Kaffee und Kuchen in der Hand.
Das Abendessen war sehr reichlich und liess die Geister
aufs Neue aufeinanderplatzen. Um 10 Uhr fuhren wir als
die letzten weg; am folgenden Tag trat ich über
Letschin den Heimweg an. Ich hatte für die paar Tage
sehr viel Neues gesehen.
Um
mich für die gastfreundliche Aufnahme dankbar zu
erweisen, hatte ich meinem Freund Th. Vischers "Auch
Einer" als Weihnachtsgeschenk mitgebracht. Ich hatte den
Roman kurz vorher gelesen und besonders aus den
Aphorismen des Tagebuchs tiefwirkende Anstösse
empfangen. Sätze wie die, dass sich selber haben der
grösste Reichtum ist, und dass sich das Moralische
von selbst versteht, wirkten in ihrer Wucht und
Einschlagskraft wie eine neue Offenbarung. Sie ersetzten
alle philosophischen Systeme und begleiteten mich wie
Schutzgeister in allen Widerwärtigkeiten, die mir
etwa zustossen konnten. Ich hatte mein altes Tagebuch
wieder hervorgeholt und viele Seiten mit Auszügen
aus A.E. und eigenen Gedankenspänen gefüllt.
Aber ich übersah, wieviel Anstössiges für
positiv eingestellte Christen die Pfahlbaugeschichte mit
ihrer Verhöhnung des Kultus enthielt, wie fremd die
Sprache, wie unbekannt die Schauplätze, wie
ungeniessbar die ans Narrenhafte grenzenden Schrullen des
Haupthelden norddeutschen Lesern sein mussten. Als ich
merkte, welches Unheil ich angerichtet hatte, war es zu
spät; die Freundschaft mit Thimann hatte einen Riss
bekommen, der sich nicht wieder schliessen
liess.
Den
Rest der Ferien benützte ich zu häufigerem
Konzert- und Theaterbesuch. Ich musste trotz billiger
Studentenkarten sehr sparsam mit solchen Genüssen
sein. Im Oktober hatte ich den Faust gesehen und eine
englische Aufführung des Mikado mit der
Originalbesetzung erlebt. Jetzt hörte ich zum ersten
Mal, tief erschüttert und mitgerissen, den
Tannhäuser, die Zauberflöte, das Requiem von
Berlioz. Auch ein Ausstattungsstück, das jeden Abend
im Viktoria-Theater gegeben wurde, eine
Bühnenbearbeitung von Jules Vernes "Reise um die
Erde in Achtzig Tagen", liess ich mir nicht entgehen.
Fast noch mehr als der bühnentechische Aufwand ist
mir ein blasser Bub von zwölf Jahren in Erinnerung
geblieben, der neben mir sass und kein Auge von der Szene
wandte.
Anfang
Februar schrieb ich nach Hause, dass ich versuchen wolle,
eine Karte für den Reichstag zu bekommen. Am 5. war
in den Zeitungen zu lesen, dass Bismarck wegen der
Militiärvorlage selbst in dem Reichstag sprechen
würde. Dafür noch eine Karte zu erhalten, war
unmöglich, aber ich bummelte an dem Tage auf gut
Glück die Leipziger Strasse hinab, dem alten
Reichstag zu. Ich kam in ein fürchterliches
Gedränge und hörte, dass man den Kanzler
erwarte. Als Prinz Wilhelm in einer Hofkutsche angefahren
kam - ich habe nur die Kutsche, nicht den Prinzen gesehen
- war man einig, dass nun auch Bismarck gleich erscheinen
würde. Das immer mehr anschwellende Hurra-Rufen von
der Wilhelmstrasse her bestätigte die Erwartung. Da
half keine Absperrung mehr, alles drängte sich an
den Wagen, der nur langsam vorwärtskam. Auch ich
wurde ziemlich nahe an den Wagen geschoben und sah den
grossen Kanzler, zum ersten und letzten Mal, freundlich
grüssend und lachend, in seiner allbekannten
Kürassieruniform. Während Bismarck seine
berühmte Rede hielt - "wir Deutschen fürchten
Gott und sonst nichts in der Welt" - sass ich auf der
Bibliothek. Wäre ich auf der Strasse geblieben, so
hätte ich auch den unbeschreiblichen Jubel
miterlebt, als der Kanzler den Weg vom Reichstag zu
seinem Palais mitten unter der Menge zu Fuss
zurücklegte.
An
einem der folgenden Tage gelang es mir auch, zu einer
Sitzung in den Reichstag zu kommen. Ich sah dem Treiben
eine Weile zu, erkannte nach Bildern und Karikaturen
Windhorst und Eugen Richter, sonst aber war nicht viel
los, und die Schilderung der Sitzung, die ich
niederschrieb, fiel ziemlich ironisch aus.
Von
den tiefen Eindrücken, die ich dem Besuch der
Bildergalerien und Gemäldeausstellungen,
insbesondere einer Lenbach-Ausstellung verdanke, will ich
hier nicht viele Worte machen. Ich hatte es nicht auf die
Masse der Bilder abgesehen und durchschritt manchen Saal
ohne innere Teilnahme, aber ich konnte auch vor einzelnen
Bildern viertelstundenlang stehen bleiben, und mich in
jeden Pinselstrich, jede Farbe versenken. So habe ich die
ersten Bilder von Dürer und Rembrandt, von Menzel,
Böcklin, Segantini, Lenbach gesehen und mich an
Kunst erbaut, ohne anderen damit lästig zu
fallen.
Wie
sich meine wissenschaftlichen Studien gestalteten, will
ich ausführlicher erzählen. Von der Mathematik
abgesehen, hatte ich keine bestimmten Pläne für
das Hören von Vorlesungen in Aussicht genommen. Ich
wollte mich nicht zu sehr belasten, um für das
Privatstudium und die Stadt möglichst viel Zeit
übrig zu behalten. Es kam auch der väterlichen
Kasse zu gute, wenn ich keine grossen Vorlesungen mehr
belegte. Welche Verheerungen kleine anzurichten imstande
waren, sollte ich bald erfahren.
Mit
Zahlentheorie bis an den Rand geladen, betrat ich
ziemlich selbstsicher Kroneckers Hörsaal. Er war gut
besetzt, nur fiel mir auf, dass ziemlich viel alte Knaben
die Bänke füllten. Nach wenigen Wochen stellten
sich, trotz weit getriebener Vorbereitungen, bei der
Ausarbeitung des Kollegs Schwierigkeiten ein. Es kam vor,
dass ich stundenlang an irgend einer Formel hängen
blieb, die ich mir nicht klarmachen konnte. Dann erlebte
ich meistens, dass der grosse Meister in einer der
folgenden Stunden erklärte, da und da sei eine
Entwicklung richtigzustellen, die Formeln müssten so
und so lauten. Eine Zeit lang hielt ich noch durch, dann
hörte ich auf, die Vorlesung auszuarbeiten. Ich sah
auch mit Genugtuung, dass der Hörsaal immer leerer
wurde. Gegen Weihnachten war die Zahl der Teilnehmer auf
14 zusammengeschmolzen; als ich nach den Ferien bei
herrlichem Winterwetter wiederkam und nur noch neun
Hörer vorfand, dispensierte ich mich von weiterer
Qual.
Bei
Weierstrass hatte ich eine Stunde Variationsrechnung
belegt. Ich wollte doch eine Erinnerung an den
grössten aller lebenden Mathematiker mit nach Hause
nehmen. Seine von mächtigen Brauen
überschatteten rätselhaften Augen werde ich nie
vergessen, von der Variationsrechnung ist nichts
übriggeblieben.
Die
Art der Fuchs'schen Mathematik war mir von Heidelberg her
vertraut, da sich Königsberger auf verwandten Bahnen
bewegte. Ich besuchte eine oder zwei Stunden, um
wenigstens den grossen Funktionentheoretiker einmal
gehört und gesehen zu haben.
Mit
Physik und Chemie gab ich mich in Berlin nicht weiter ab,
aber Helmholtz musste ich doch gesehen haben. Ich erhielt
von seinem Kolleg über Experimental-Physik den
gleichen Eindruck, den auch andere gehabt haben: dass es
ihm eine Last war, vor einem Haufen unreifer Studenten
seine Zeit mit elementaren Dingen zu
vergeuden.
Wie
anders wirkte Du Bois-Reymonds Vortrag! Das war ein
Funkeln und Glitzen von Gedanken, eine Freude an
pointenreicher Rede, ein Kontakt mit den Hörern, wie
das bisher kaum irgendwo, auch bei dem Schauspieler
Fischer nicht erlebt habe. Das Kolleg war zum
Erdrücken voll und von allen Kreisen der
Studentenschaft und der Stadt besucht. Ich selbst
fühlte mich durch sein Ignorabimus angenehm
berührt, es beruhigte mich, dass es noch
Naturforscher gab, die nicht alle Welträtsel zu
lösen beanspruchten.
Ein
Kolleg über allgemeine Botanik bei Schwendener war
ziemlich trocken; ich belegte es, weil es mir noch
fehlte, konnte mich aber nicht dafür begeistern.
Stärker wurde ich von Eilhard Schulzes Vorlesung
über Anthropoden angeregt, doch weiss ich auch hier
nicht mehr ob ich bis ans Ende durchgehalten habe.
Schliesslich waren das Fachvorlesungen, deren Inhalt ich
jedem Buch entnehmen konnte, und deren Wirkung nicht in
die Tiefe ging.
Es
war nun auch Zeit geworden, mich pädagogischen
Fragen zuzuwenden. Man begreift, dass ein eben erst der
Schule entronnener Fuchs kein Bedürfnis hat, sich
mit Gymnasialpädagogik zu befassen. So ging ich in
Strassburg Theobald Zieglers Vorlesungen ebenso
hartnäckig aus dem Weg wie in Heidelberg Uhligs
Einwirkungen. Ich hatte den Zugang zu den Fragen der
Erziehung, wie das bei meinen Neigungen nicht anders zu
erwarten war, von der philosophischen Seite her gefunden,
und war auch hier wieder Ernst Laas zu besonderem Dank
verpflichtet. So fand ich mich nun bei Paulsen ein und
war von der ersten Stunde an von seinem feinsinnigen
Vortrag gefesselt. Er sprach so leise, dass man die
ersten Sätze kaum verstand, aber er erreichte damit,
dass die ganze grosse Gemeinde nach wenigen Augenblicken
in lautloser Andacht zuhörte. Es ist die
schönste, wenn auch nicht die folgenreichste
Vorlesung gewesen, die ich in Berlin gehört habe.
Nur von Treitschkes leidenschaftlicher Rede und von einer
Vorlesung, auf die ich gleich zu sprechen komme, wurde
ich stärker mitgerissen.
Was
verführte mich nun, meine Schritte noch nach ganz
anderen Richtungen zu lenken und Gebiete zu betreten, auf
denen ich wirklich nichts zu suchen hatte? Was ging mich
alt-ägyptische Geschichte an? Was erwartete ich von
Adolf Bastians Vorlesung über Ethnologie? Was
sollten mir Vorlesungen von Lazarus und Steinthal
bringen?
Es
ist klar, dass die im vorangegangenen Winter bis zu einem
gewissen Abschluss gelangten Studien durch den Besuch der
Museen einen neuen Auftrieb erhielten. Nur um Kroneckers
Zahlentheorie zu hören, war ich bestimmt nicht nach
Berlin gegangen. Zum Verständnis von Bastians
Ethnologie war ich durch meiner Privatstunden gut
vorbereitet wie für irgend ein anderes Kolleg. Der
Unterschied war, dass mich Kroneckers verstiegene
Mathematik zur Verzweiflung brachte während mir
Bastians nichts weniger als formvollendeter Vortrag vom
ersten bis zum letzten Wort etwas zu sagen hatte. Schon
Anfang Dezember schrieb ich nach Hause, dass ich jetzt
eine Karte erhalten hätte, die mir jeden Tag den
kostenlosen Besuch des Museums für Völkerkunde
verschaffe. Mitte Januar heisst es: ich habe seit einer
Woche angefangen, das Museum systematisch, Kasten
für Kasten, zu studieren; es liegt mir viel daran,
gerade auf diesem Gebiet Anschauungen zu sammeln und mir
das Gesehene einzuprägen. Bis Ende Januar bin ich
"nach dieser Methode" durch ganz Amerika und Alaska und
Grönland bis zu den Patagoniern, über ganz
Polynesien und Australien, Sibirien und die
Amurländer gekommen und in Afrika stehen geblieben,
das ich nächste Woche zu erledigen gedenke. Am 28.
Januar im gleichen Brief berichtete ich über einen
Vortrag des Japaners Tetsusiro Inuye über die
Shinto-Religionen und eine Vorlesung des Prof. von der
Gabelentz über Konfuzius. Der letzte Brief, den ich
von Berlin nach Hause schrieb, spricht den Dank
dafür aus, dass ich in Berlin studieren durfte; ich
hätte nicht ahnen können, welchen Einfluss der
Aufenthalt auf meine Zukunftspläne ausüben
werde, aber ich würde mich nach dem Staatsexamen mit
Dingen beschäftigen, die von der Mathematik soweit
entfernt seien wie Chinesisch.
Das
war eine ziemlich rätselhafte Wendung, und ich muss
mich wundern, dass ich nie gefragt wurde, was eigentlich
die Ethnologie, an die ich so viel Zeit verschwendete,
mit meinem künftigen Beruf zu tun habe. Ich hatte
Grund, nicht alles zu sagen, und muss nun nachholen, was
in den Briefen nicht enthalten ist.
Die
Dinge hatten sich mit unwiderstehlicher Gewalt
entwickelt.
Es
ist das eigene Auge, das sich den Horizont schafft, sagt
Bastian irgendwo. Ich war weit genug gewandert und hoch
genug gestiegen, um vor den Horizonten, die Bastians
Werke eröffneten, nicht zurückzuschrecken. Dass
ich mit meiner Kurzsichtigkeit und meinen sonstigen
körperlichen Schwächen nicht ein
Forschungsreisender wie Bastian werden könne, lag
auf der Hand. Aber warum sollte ich nicht als
Religionsforscher an dem Aufbau einer
Entwicklungsgeschichte der menschlichen Gesittung
mitwirken können? Meine Studien gingen bald weit
über den Rahmen des kleinen Kollegs hinaus. Der
Lesesaal der Kgl. Bibliothek, jeden Tag bis 9 Uhr
geöffnet, bot mit seinen bis an die Decke reichenden
Bücherbeständen unendlichen Lesestoff. Ich
vertiefte mich in die Bände der Zeitschriften
für Ethnographie und Völkerpsychologie, ich
verschlang die englische und spanische Literatur
über die Entdeckungsgeschichte Amerikas, ich sucht
mich auch, so gut es ging, in die abstrusen späteren
Werke Bastians einzulesen, die er über den
Buddhismus, die Völker des östlichen Asiens,
die Kulturländer des alten Amerikas und endlose
andere Fragen geschrieben hatte. Aber ich sah
schliesslich, dass ich auf diesem Wege nichts erreichte,
dass sich meine Ziele in immer weitere Fernen verloren.
Eines Tages stiess ich auf eine Anzeige, in der ein
junger Gelehrter zur Mitarbeit an einer ethnologischen
Zeitschrift gesucht wurde. Ich meldete mich und bekam die
Aufgabe gestellt, möglichst schnell einen kritischen
Bericht über Bachofens Mutterrecht zu liefern. Ich
kannte kaum den Titel des Buchs und von Rechtsfragen
verstand ich überhaupt nichts. Ich musste ablehnen
und war um eine beschämende Erfahrung reicher
geworden.
Mit
Bastian selbst über meine Berufsnöte und meine
Leidenschaft für seinen "Völkergedanken" zu
sprechen und ihn zu fragen, ob er mich vielleicht als
Hilfskraft am Museum einstellen könne, dazu fand ich
den Mut nicht. Die Zusage, mich probeweise zu
beschäftigen und mir bestimmte Aufgaben zu stellen,
wäre schlimmer gewesen als eine Ablehnung. Wie
konnte ich es verantworten, nach jahrelangem Studium,
für das mein Vater Tausende geopfert hatte, meine
Zukunft auf einen so unsicheren Grund zu bauen? Er
hätte, darüber war ich mir vollkommen klar,
seine Zustimmung an die Bedingung geknüpft, unter
allen Umständen erst die Prüfung für das
Lehramt zu erledigen, um mir die Rückzugslinie
freizuhalten. Ich zog die Konsequenzen aus eigenem
Entschluss und entwickelte meine Pläne in Berlin nur
so weit, dass ich wusste, was ich sofort nach Erledigung
der Staatsprüfung in Angriff nehmen wollte.
Mit
den Tatsachen und Motiven primitiver Religionsübung
hinreichend vertraut, musste ich mit innerer
Notwendigkeit zu den höheren Götterkulturen und
den grossen Weltreligionen weitergeführt werden. Auf
dem Weg von Bastians Büchern konnte ich nicht
vorwärtskommen: ihre konfuse Schreibart, der
unentwirrbare Mischmasch aus allen möglichen und
unmöglichen Literaturen, der die leitenden Gedanken
über von Zitaten und Anspielungen wucherte, konnte
kein wirkliches Wissen vermitteln. Ich glaubte, dass ich
die Weltreligionen und ihre heiligen Bücher in ihrer
eigenen Sprache auf mich wirken lasse müsse, um
klare Begriffe von ihrem Wesen und ihrer geschichtlichen
Erscheinung zu gewinnen. Hätte ich ein Buch wie
Chantepis de la Saussaye's Religionsgeschichte gekannt,
so hätte ich mich vielleicht damit begnügt, mir
die erwünschten Kenntnisse auf dem bequemeren Wege
anzueignen. Aber ich war nun von dem Fanatismus des
Quellenstudiums gepackt worden, ich wollte alles aus
erster Hand haben und fasste den verwegenen Plan,
zunächst einmal die Sprache zu lernen, in der die
religiösen Urkunden geschrieben waren, ohne eine
Ahnung von der Unermesslichkeit der Aufgabe zu haben.
Wenn ich im Augenblick auch den Entschluss in die
tiefsten Abgründe der Seele versenkte, so war ich
doch entschlossen, darauf zurückzukommen, sobald es
die Verhältnisse erlaubten.
Um
einen billigen Ferienzug benutzen zu können, blieb
ich noch bis zum 3. März in Berlin. Ende Februar
waren die ersten beunruhigenden Gerüchte über
das Befinden des alten Kaisers aufgetaucht. Kaum war ich
zu Hause, so brachten die Zeitungen die Nachricht, dass
das Leben des Monarchen erloschen war, der keine Zeit
hatte, müde zu sein.