Zweiunddreissigstes Kapitel.

Ein Winter in Berlin.

Briefe aus Berlin.
Unendlicher Erwartung voll trat ich am 13. Oktober die Reise an. In Heidelberg war grosser Empfang und ein paar Stunden Aufenthalt. Am Abend setzte ich die Reise über Frankfurt und Kassel weiter fort. Die Nacht war kalt, der Wagen ungeheizt, die Scheiben dick mit Eis überzogen, als der Morgen graute. Auch der mitgenommene Rotwein versagte schliesslich. Bei Tagesanbruch kamen wir durch Nordhausen; dort entdeckte ich die erste Windmühle, die sich gespenstisch vom Himmel abhob. Bei Strassfurt fielen mir die zahllosen Bohrtürme und Fabrikschornsteine auf, bei Magdeburg enttäuschte mich der Anblick der Elbe, zwischen Brandenburg und Potsdam überraschte die abwechslungsreiche Landschaft. Auf dem Bahnhof Friedrichstrasse war die Reise zu Ende.

Berlin war mir keineswegs so fremd, wie man denken könnte. Über die Universität hatte ich schon viel von Freunden gehört, die vor mir dort gewesen waren. Durch Voigts Schilderungen mitternächtlicher Wanzenjagden war ich auf allerhand intime Erlebnisse vorbereitet. Über Theater und Konzerte, Museen und Ausstellungen hatte ich durch das Berliner Tageblatt und andere Leitsterne der öffentlichen Meinung seit Jahren so viel Licht empfangen, als ob ich seit Jahren in der Stadt gelebt hätte. Auch die Namen der Strassen und Plätze waren mit geläufig und ein Stadtplan lieferte die Grundlage für weitere Orientierung. Ein Zimmer hatte ich bald gefunden; es befand sich in einem neuen Haus der Auguststrasse und war erfreulicherweise wanzenfrei. Da ich gewöhnlich nicht vor 9 Uhr abends nach Hause kam, konnte ich auf Heizung verzichten; schlimmstenfalls behielt ich den Mantel an, und heizte innerlich mit Kakao.

Nach Erledigung der Anmeldung sah ich mir die Linden an. Von den Bäumen war ich schwer enttäuscht, das architektonische Bild der stolzen Strasse imponierte mir. Den Nachmittag benützte ich noch zu einem ausgiebigen Besuch des Aquariums. Es lag an der Nordseite der Linden, gegen das Brandenburger Tor zu, und galt als besondere Sehenswürdigkeit. Sein Tierbestand beschränkte sich nicht auf das, was im Wasser lebt; man sah auch Vögel aller Art, besonders rosenrote Kakadus, dann fliegende Hunde, Halbaffen und ganze Affen, als besondere Attraktion einen Schimpansen von fast menschlicher Gesittung. Am Abend fasste ich das Erlebte in einem Reisebericht von acht Seiten zusammen. Ich hatte versprochen, über alles nach Hause zu schreiben, und brachte es bis Ende Februar auf einen Dutzend Briefe, die alle acht bis sechzehn Seiten Umfang hatten. Sie würden einen Baedeker durch das Berlin vor fünfzig Jahren darstellen, wenn ich sie herausgeben wollte.

Schon der zweite Brief enthält eine begeisterte Beschreibung des Ethnologischen Museums. Es ist das erste und einzige dieser Art überhaupt, heisst es da; es enthält, soweit bis jetzt zugänglich, die Funde Schliemanns bei seinen Ausgrabungen in Troja, die in Preussen gemachten Funde aus der Stein- und Bronzezeit, ferner Kunst- und Gebrauchsgegenstände, Waffen, Schmuck, Objekte der religiösen Verehrung von allen Völkern Afrikas, Australiens, Asiens und Amerikas. Sie birgt die Sammlungen von Nachtigal, Schweinfurth, Junker, Wissmann und vielen anderen Reisenden, wie die von unseren Kriegsschiffen aus Polynesien mitgebrachten Gegenstände. Noch nicht zugänglich sind die Sammlungen aus Indien, China und Japan, doch lassen einige Schränke voll jetzt schon ausgestellter Kunstgegenstände ahnen, zu welch unglaublicher Vollendung die Völker Ostasiens ihre Kunstfertigkeit entwickelt haben ... Man müsste den ganzen Katalog durchstudieren und mindestens zehnmal viele Stunden lang im Museum zubringen, um einen wirklichen Gewinn zu haben und die Anbahnung eines Verständnisses für alle diese Fragen mitzunehmen. Ich beneide die Gelehrten, die berufen sind, mit Hilfe dieser Sammlungen nach und nach eine Kultur- und Entwicklungsgeschichte der Menschheit aufzubauen. Welche umfassenden Kenntnisse jeder Art, Kenntnis der Sprachen und Sitten, der Religion und der Kultur, der natürlichen Beschaffenheit der Wohnsitze aller dieser Völker gehört nicht dazu!

Für einen Mathematiker war das eine recht bedenkliche Begeisterung. Wenn sie bei allen anderen Museen in gleicher oder gar gesteigerter Form wiederkehrte, was sollte dann noch aus dem Studium werden? Einstweilen, solange ich frei über eine Zeit verfügen konnte, durchwanderte ich die Strassen, Plätze und Parkanlagen, um wichtige Gebäude und Denkmäler kennenzulernen. Mein Hunger nach sachlicher Belehrung und neuen Anschauungen führte mich überall hin: in die Zentralmarkthalle so gut wie in den Zoologischen Garten, das Zeughaus und das Ägyptische Museum, in Präuschens Anatomisches Museum und Kastans Panoptikum, in die naturwissenschaftlichen Sammlungen und in die Museen für Kunst und Kunstgewerbe. Mit den Berichten über das Gesehene, die sich über die Briefe verteilen, mischen sich Beobachtungen über Verkehrsverhältnisse, Strassenleben, Bevölkerungstypen, Ess- und Trinksitten, Geschäftsauslagen, Weihnachtsmarkt, kurz alles, was zu Hause interessieren konnte, und in gleicher Weise pflegte ich über den Besuch von Konzerten, Opernhaus und Theater oder über den Inhalt von Vorträgen zu schreiben. Erlebnisse ungewöhnlicher Art, über die ich ausführlicher berichtete, sollen auch hier ihre Stelle finden.

Mitte November stattete der Zar Alexander III. dem alten Kaiser einen Besuch ab. Ich kam gerade vom Essen und wollte am Opernplatz die Linden überschreiten, konnte aber nicht weiterkommen, weil ein ungeheures Aufgebot von Schutzleuten zu Fuss und zu Pferde den Raum zwischen Kaiser-Palais und altem Schloss abgeriegelt hatte. Der weitere Platz vor der Universität und dem Zeughaus ist wie leer gefegt. Niemand darf wagen, einen Schritt vorwärts zu tun, Bekannte und Unbekannte sprechen leise miteinander. Plötzlich sprengen zwei Gendarme vor, es folgt ein Vorreiter, dann die Galakutsche, in der, in einen grauen Mantel gehüllt, mit seinem Adjutanten der Zar sitzt, ein Riese von Gestalt, rotbärtig, finster, wie man sich einen Zaren vorstellt. Nach kurzem Besuch jagt der Wagen wieder zurück, die Linden entlang zur Russischen Botschaft. Ein paar schwache Hoch-Rufe unterstreichen nur das eisige Schweigen der Zuschauer.

Im Brief folgen noch Bemerkungen über die Szenen, die sich an anderen Tagen vor dem Kaiser-Palais abspielen, wenn sich der alte Herr beim Aufziehen der Wache am Fenster zeigt, und Betrachtungen über das düstere Verhängnis, dass der Kronprinz, die Hoffnung des freisinnigen, unabhängigen Teiles unseres Volkes, rettungslos verloren ist. In einem anderen Brief finde ich auch bissige Bemerkungen über den Prinzen Wilhelm und seine Beziehungen zu Stöcker.

Über die Weihnachtsfeiertage wurde ich von G. Thimann, einem an der Technischen Hochschule jüngeren Vereinsbruder, mit dem ich mich öfters traf, auf das Gut seiner Eltern, das westlich von Küstrin im Oderbruch lag, eingeladen. Er hatte mir manches von dem Leben auf den grossen Gütern erzählt, und ich nahm die Einladung gerne an. Bisher hatte ich meine Ansichten über die Agrarier zumeist aus dem Berliner Tageblatt und anderen trüben Quellen geschöpft; nun würde ich ja Gelegenheit haben, Exemplare dieser Menschensorte aus nächster Nähe kennenzulernen. Ich sollte mit dem Wagen an der Station Golzig abgeholt werden, musste aber längere Zeit warten. Es lag tiefer Schnee und war bitter kalt. Ein Eingeborener, der sich mit heissem Grog anwärmte, liess auch für mich ein Glas kommen; es war unmöglich, seiner freundlichen Aufforderung nicht nachzukommen.

Endlich erschien auch, von einem älteren Bruder meines Freundes gelenkt, ein Wagen mit zwei Pferden, Ich wurde in Decken gepackt, verkroch mich in meinen Havelock und nun ging's im Schneegestöber über die endlose Ebene dem Hofe zu. Mit grosser Herzlichkeit empfangen, lernte ich beim dampfenden Kaffee die Familien kennen, am anderen Tag wurde mir der Betrieb auf dem Gut gezeigt, Die Besitzer, der Vater ein Fünfziger, die Mutter etwas jünger, machten auf mich einen gewinnenden gut bürgerlichen Eindruck. Von den vier Söhnen war der Älteste Pfarrkandidat, der zweite, der mich abgeholt hatte, sollte später das Gut übernehmen, der jüngste besuchte in Frankfurt an der Oder die Realschule. Töchter waren keine vorhanden, aber ein Graupapagei, unermüdlich im Sprechen, Pfeifen, Nachahmen von Tierstimmen, konnte auch noch zur Familie gezählt werden.

Das geräumige, behaglich eingerichtete Wohnhaus schloss mit langgestreckten Scheunen und Ställen einen weiten viereckigen Hof ab. Acht Pferde und fünf Füllen, doppelt soviel Hühner mit entsprechendem Nachwuchs, ein Stier, eine Herde Schafe und Schweine, Geflügel aller Art, Hof- und Jagdhunde bildeten dass lebende Inventar. Wagen und landwirtschaftliche Maschinen standen in grosser Zahl in besonderen Schuppen, unermesslich waren nach meinen Begriffen die in den Scheunen aufgespeicherten Erntevorräte. Ich liess mir über alles Mögliche Auskunft geben und konnte auch von den ganz andersartigen Verhältnissen in meiner Heimat erzählen. In den Fragen der Viehzucht war ich allerdings schwach beschlagen, vom Obst- und Gartenbau wusste ich eher etwas Neues zu sagen.

Am Samstag Nachmittag half ich den stattlichen Christbaum schmücken. Gegen Abend machten wir uns auf den Weg nach Zechin, um vor der Bescherung noch an einer Abendandacht teilzunehmen; nur die Mutter blieb zu Hause, da sie den Weihnachtstisch zu richten hatte. Wir mussten im Gänsemarsch einen ausgetretenen Pfad im Schnee gehen, weil der grösste Teil des Wegs durch grabentiefe Wagenspuren und Löcher ungangbar war. Der Chorraum der kleinen Kirche war mit zwei Christbäumen geschmückt, die Gemeinde sang, so gut sie konnte, der Pastor tat sein Möglichstes, die Herzen zu erwärmen. Am Bescherungsabend lernte ich allerhand fremde Bräuche kennen; vom Julklapp hatte ich noch nie gehört.

Für den Weihnachtstag waren die Brüder Thimann mit mir zu einem befreundeten Gutsbesitzer eingeladen. Als wir nach fast einer Stunde Wagenfahrt in strahlender Sonne um vier Uhr anlangten, fanden wir die zahlreiche Gesellschaft noch beim Essen versammelt: den verwitweten Besitzer, eine Grossmutter und eine Tante, die dem Haushalt vorstanden, drei Töchter zwischen 15 und 23 Jahren, die ebenfalls im Hause tätig waren, drei Jungen von 8 bis 13 Jahren und einen Einjährigen, der in Stettin diente und über die Feiertage nach Hause gekommen war. Mit weiteren Verwandten und Freunden waren gegen zwanzig Personen versammelt, als wir kamen. Am meisten eine Dame aus Chemnitz fiel mir durch ihren scheusslichen Dialekt auf die Nerven, und ein Gutsbesitzer, der mit seinem roten, brutalen Kopf und seinen ungeschlachten Formen den Typus des Agrariers darzustellen schien.

Die Unterhaltung war sehr laut und ungezwungen, der Wein hatte die Köpfe erhitzt und die Zungen gelöst. Ich konnte allerhand politische Bekenntnisse und Grundsätze kennen lernen, die man sonstwo nicht zum besten gegeben hätte. "Frech muss man sein, sich vordrängen und Ansprüche machen, merken Sie sich das für die nächste Zukunft." belehrte der Alte die anwesende Jugend. Nachdem die Gesellschaft sich erhoben hatte, wurde in einem anderen Zimmer Kaffee serviert; wir bildeten einen weiten Kreis um ein Tischchen und balancierten Kaffee und Kuchen in der Hand. Das Abendessen war sehr reichlich und liess die Geister aufs Neue aufeinanderplatzen. Um 10 Uhr fuhren wir als die letzten weg; am folgenden Tag trat ich über Letschin den Heimweg an. Ich hatte für die paar Tage sehr viel Neues gesehen.

Um mich für die gastfreundliche Aufnahme dankbar zu erweisen, hatte ich meinem Freund Th. Vischers "Auch Einer" als Weihnachtsgeschenk mitgebracht. Ich hatte den Roman kurz vorher gelesen und besonders aus den Aphorismen des Tagebuchs tiefwirkende Anstösse empfangen. Sätze wie die, dass sich selber haben der grösste Reichtum ist, und dass sich das Moralische von selbst versteht, wirkten in ihrer Wucht und Einschlagskraft wie eine neue Offenbarung. Sie ersetzten alle philosophischen Systeme und begleiteten mich wie Schutzgeister in allen Widerwärtigkeiten, die mir etwa zustossen konnten. Ich hatte mein altes Tagebuch wieder hervorgeholt und viele Seiten mit Auszügen aus A.E. und eigenen Gedankenspänen gefüllt. Aber ich übersah, wieviel Anstössiges für positiv eingestellte Christen die Pfahlbaugeschichte mit ihrer Verhöhnung des Kultus enthielt, wie fremd die Sprache, wie unbekannt die Schauplätze, wie ungeniessbar die ans Narrenhafte grenzenden Schrullen des Haupthelden norddeutschen Lesern sein mussten. Als ich merkte, welches Unheil ich angerichtet hatte, war es zu spät; die Freundschaft mit Thimann hatte einen Riss bekommen, der sich nicht wieder schliessen liess.

Den Rest der Ferien benützte ich zu häufigerem Konzert- und Theaterbesuch. Ich musste trotz billiger Studentenkarten sehr sparsam mit solchen Genüssen sein. Im Oktober hatte ich den Faust gesehen und eine englische Aufführung des Mikado mit der Originalbesetzung erlebt. Jetzt hörte ich zum ersten Mal, tief erschüttert und mitgerissen, den Tannhäuser, die Zauberflöte, das Requiem von Berlioz. Auch ein Ausstattungsstück, das jeden Abend im Viktoria-Theater gegeben wurde, eine Bühnenbearbeitung von Jules Vernes "Reise um die Erde in Achtzig Tagen", liess ich mir nicht entgehen. Fast noch mehr als der bühnentechische Aufwand ist mir ein blasser Bub von zwölf Jahren in Erinnerung geblieben, der neben mir sass und kein Auge von der Szene wandte.

Anfang Februar schrieb ich nach Hause, dass ich versuchen wolle, eine Karte für den Reichstag zu bekommen. Am 5. war in den Zeitungen zu lesen, dass Bismarck wegen der Militiärvorlage selbst in dem Reichstag sprechen würde. Dafür noch eine Karte zu erhalten, war unmöglich, aber ich bummelte an dem Tage auf gut Glück die Leipziger Strasse hinab, dem alten Reichstag zu. Ich kam in ein fürchterliches Gedränge und hörte, dass man den Kanzler erwarte. Als Prinz Wilhelm in einer Hofkutsche angefahren kam - ich habe nur die Kutsche, nicht den Prinzen gesehen - war man einig, dass nun auch Bismarck gleich erscheinen würde. Das immer mehr anschwellende Hurra-Rufen von der Wilhelmstrasse her bestätigte die Erwartung. Da half keine Absperrung mehr, alles drängte sich an den Wagen, der nur langsam vorwärtskam. Auch ich wurde ziemlich nahe an den Wagen geschoben und sah den grossen Kanzler, zum ersten und letzten Mal, freundlich grüssend und lachend, in seiner allbekannten Kürassieruniform. Während Bismarck seine berühmte Rede hielt - "wir Deutschen fürchten Gott und sonst nichts in der Welt" - sass ich auf der Bibliothek. Wäre ich auf der Strasse geblieben, so hätte ich auch den unbeschreiblichen Jubel miterlebt, als der Kanzler den Weg vom Reichstag zu seinem Palais mitten unter der Menge zu Fuss zurücklegte.

An einem der folgenden Tage gelang es mir auch, zu einer Sitzung in den Reichstag zu kommen. Ich sah dem Treiben eine Weile zu, erkannte nach Bildern und Karikaturen Windhorst und Eugen Richter, sonst aber war nicht viel los, und die Schilderung der Sitzung, die ich niederschrieb, fiel ziemlich ironisch aus.

Von den tiefen Eindrücken, die ich dem Besuch der Bildergalerien und Gemäldeausstellungen, insbesondere einer Lenbach-Ausstellung verdanke, will ich hier nicht viele Worte machen. Ich hatte es nicht auf die Masse der Bilder abgesehen und durchschritt manchen Saal ohne innere Teilnahme, aber ich konnte auch vor einzelnen Bildern viertelstundenlang stehen bleiben, und mich in jeden Pinselstrich, jede Farbe versenken. So habe ich die ersten Bilder von Dürer und Rembrandt, von Menzel, Böcklin, Segantini, Lenbach gesehen und mich an Kunst erbaut, ohne anderen damit lästig zu fallen.

Wie sich meine wissenschaftlichen Studien gestalteten, will ich ausführlicher erzählen. Von der Mathematik abgesehen, hatte ich keine bestimmten Pläne für das Hören von Vorlesungen in Aussicht genommen. Ich wollte mich nicht zu sehr belasten, um für das Privatstudium und die Stadt möglichst viel Zeit übrig zu behalten. Es kam auch der väterlichen Kasse zu gute, wenn ich keine grossen Vorlesungen mehr belegte. Welche Verheerungen kleine anzurichten imstande waren, sollte ich bald erfahren.

Mit Zahlentheorie bis an den Rand geladen, betrat ich ziemlich selbstsicher Kroneckers Hörsaal. Er war gut besetzt, nur fiel mir auf, dass ziemlich viel alte Knaben die Bänke füllten. Nach wenigen Wochen stellten sich, trotz weit getriebener Vorbereitungen, bei der Ausarbeitung des Kollegs Schwierigkeiten ein. Es kam vor, dass ich stundenlang an irgend einer Formel hängen blieb, die ich mir nicht klarmachen konnte. Dann erlebte ich meistens, dass der grosse Meister in einer der folgenden Stunden erklärte, da und da sei eine Entwicklung richtigzustellen, die Formeln müssten so und so lauten. Eine Zeit lang hielt ich noch durch, dann hörte ich auf, die Vorlesung auszuarbeiten. Ich sah auch mit Genugtuung, dass der Hörsaal immer leerer wurde. Gegen Weihnachten war die Zahl der Teilnehmer auf 14 zusammengeschmolzen; als ich nach den Ferien bei herrlichem Winterwetter wiederkam und nur noch neun Hörer vorfand, dispensierte ich mich von weiterer Qual.

Bei Weierstrass hatte ich eine Stunde Variationsrechnung belegt. Ich wollte doch eine Erinnerung an den grössten aller lebenden Mathematiker mit nach Hause nehmen. Seine von mächtigen Brauen überschatteten rätselhaften Augen werde ich nie vergessen, von der Variationsrechnung ist nichts übriggeblieben.

Die Art der Fuchs'schen Mathematik war mir von Heidelberg her vertraut, da sich Königsberger auf verwandten Bahnen bewegte. Ich besuchte eine oder zwei Stunden, um wenigstens den grossen Funktionentheoretiker einmal gehört und gesehen zu haben.

Mit Physik und Chemie gab ich mich in Berlin nicht weiter ab, aber Helmholtz musste ich doch gesehen haben. Ich erhielt von seinem Kolleg über Experimental-Physik den gleichen Eindruck, den auch andere gehabt haben: dass es ihm eine Last war, vor einem Haufen unreifer Studenten seine Zeit mit elementaren Dingen zu vergeuden.

Wie anders wirkte Du Bois-Reymonds Vortrag! Das war ein Funkeln und Glitzen von Gedanken, eine Freude an pointenreicher Rede, ein Kontakt mit den Hörern, wie das bisher kaum irgendwo, auch bei dem Schauspieler Fischer nicht erlebt habe. Das Kolleg war zum Erdrücken voll und von allen Kreisen der Studentenschaft und der Stadt besucht. Ich selbst fühlte mich durch sein Ignorabimus angenehm berührt, es beruhigte mich, dass es noch Naturforscher gab, die nicht alle Welträtsel zu lösen beanspruchten.

Ein Kolleg über allgemeine Botanik bei Schwendener war ziemlich trocken; ich belegte es, weil es mir noch fehlte, konnte mich aber nicht dafür begeistern. Stärker wurde ich von Eilhard Schulzes Vorlesung über Anthropoden angeregt, doch weiss ich auch hier nicht mehr ob ich bis ans Ende durchgehalten habe. Schliesslich waren das Fachvorlesungen, deren Inhalt ich jedem Buch entnehmen konnte, und deren Wirkung nicht in die Tiefe ging.

Es war nun auch Zeit geworden, mich pädagogischen Fragen zuzuwenden. Man begreift, dass ein eben erst der Schule entronnener Fuchs kein Bedürfnis hat, sich mit Gymnasialpädagogik zu befassen. So ging ich in Strassburg Theobald Zieglers Vorlesungen ebenso hartnäckig aus dem Weg wie in Heidelberg Uhligs Einwirkungen. Ich hatte den Zugang zu den Fragen der Erziehung, wie das bei meinen Neigungen nicht anders zu erwarten war, von der philosophischen Seite her gefunden, und war auch hier wieder Ernst Laas zu besonderem Dank verpflichtet. So fand ich mich nun bei Paulsen ein und war von der ersten Stunde an von seinem feinsinnigen Vortrag gefesselt. Er sprach so leise, dass man die ersten Sätze kaum verstand, aber er erreichte damit, dass die ganze grosse Gemeinde nach wenigen Augenblicken in lautloser Andacht zuhörte. Es ist die schönste, wenn auch nicht die folgenreichste Vorlesung gewesen, die ich in Berlin gehört habe. Nur von Treitschkes leidenschaftlicher Rede und von einer Vorlesung, auf die ich gleich zu sprechen komme, wurde ich stärker mitgerissen.

Was verführte mich nun, meine Schritte noch nach ganz anderen Richtungen zu lenken und Gebiete zu betreten, auf denen ich wirklich nichts zu suchen hatte? Was ging mich alt-ägyptische Geschichte an? Was erwartete ich von Adolf Bastians Vorlesung über Ethnologie? Was sollten mir Vorlesungen von Lazarus und Steinthal bringen?

Es ist klar, dass die im vorangegangenen Winter bis zu einem gewissen Abschluss gelangten Studien durch den Besuch der Museen einen neuen Auftrieb erhielten. Nur um Kroneckers Zahlentheorie zu hören, war ich bestimmt nicht nach Berlin gegangen. Zum Verständnis von Bastians Ethnologie war ich durch meiner Privatstunden gut vorbereitet wie für irgend ein anderes Kolleg. Der Unterschied war, dass mich Kroneckers verstiegene Mathematik zur Verzweiflung brachte während mir Bastians nichts weniger als formvollendeter Vortrag vom ersten bis zum letzten Wort etwas zu sagen hatte. Schon Anfang Dezember schrieb ich nach Hause, dass ich jetzt eine Karte erhalten hätte, die mir jeden Tag den kostenlosen Besuch des Museums für Völkerkunde verschaffe. Mitte Januar heisst es: ich habe seit einer Woche angefangen, das Museum systematisch, Kasten für Kasten, zu studieren; es liegt mir viel daran, gerade auf diesem Gebiet Anschauungen zu sammeln und mir das Gesehene einzuprägen. Bis Ende Januar bin ich "nach dieser Methode" durch ganz Amerika und Alaska und Grönland bis zu den Patagoniern, über ganz Polynesien und Australien, Sibirien und die Amurländer gekommen und in Afrika stehen geblieben, das ich nächste Woche zu erledigen gedenke. Am 28. Januar im gleichen Brief berichtete ich über einen Vortrag des Japaners Tetsusiro Inuye über die Shinto-Religionen und eine Vorlesung des Prof. von der Gabelentz über Konfuzius. Der letzte Brief, den ich von Berlin nach Hause schrieb, spricht den Dank dafür aus, dass ich in Berlin studieren durfte; ich hätte nicht ahnen können, welchen Einfluss der Aufenthalt auf meine Zukunftspläne ausüben werde, aber ich würde mich nach dem Staatsexamen mit Dingen beschäftigen, die von der Mathematik soweit entfernt seien wie Chinesisch.

Das war eine ziemlich rätselhafte Wendung, und ich muss mich wundern, dass ich nie gefragt wurde, was eigentlich die Ethnologie, an die ich so viel Zeit verschwendete, mit meinem künftigen Beruf zu tun habe. Ich hatte Grund, nicht alles zu sagen, und muss nun nachholen, was in den Briefen nicht enthalten ist.

Die Dinge hatten sich mit unwiderstehlicher Gewalt entwickelt.

Es ist das eigene Auge, das sich den Horizont schafft, sagt Bastian irgendwo. Ich war weit genug gewandert und hoch genug gestiegen, um vor den Horizonten, die Bastians Werke eröffneten, nicht zurückzuschrecken. Dass ich mit meiner Kurzsichtigkeit und meinen sonstigen körperlichen Schwächen nicht ein Forschungsreisender wie Bastian werden könne, lag auf der Hand. Aber warum sollte ich nicht als Religionsforscher an dem Aufbau einer Entwicklungsgeschichte der menschlichen Gesittung mitwirken können? Meine Studien gingen bald weit über den Rahmen des kleinen Kollegs hinaus. Der Lesesaal der Kgl. Bibliothek, jeden Tag bis 9 Uhr geöffnet, bot mit seinen bis an die Decke reichenden Bücherbeständen unendlichen Lesestoff. Ich vertiefte mich in die Bände der Zeitschriften für Ethnographie und Völkerpsychologie, ich verschlang die englische und spanische Literatur über die Entdeckungsgeschichte Amerikas, ich sucht mich auch, so gut es ging, in die abstrusen späteren Werke Bastians einzulesen, die er über den Buddhismus, die Völker des östlichen Asiens, die Kulturländer des alten Amerikas und endlose andere Fragen geschrieben hatte. Aber ich sah schliesslich, dass ich auf diesem Wege nichts erreichte, dass sich meine Ziele in immer weitere Fernen verloren. Eines Tages stiess ich auf eine Anzeige, in der ein junger Gelehrter zur Mitarbeit an einer ethnologischen Zeitschrift gesucht wurde. Ich meldete mich und bekam die Aufgabe gestellt, möglichst schnell einen kritischen Bericht über Bachofens Mutterrecht zu liefern. Ich kannte kaum den Titel des Buchs und von Rechtsfragen verstand ich überhaupt nichts. Ich musste ablehnen und war um eine beschämende Erfahrung reicher geworden.

Mit Bastian selbst über meine Berufsnöte und meine Leidenschaft für seinen "Völkergedanken" zu sprechen und ihn zu fragen, ob er mich vielleicht als Hilfskraft am Museum einstellen könne, dazu fand ich den Mut nicht. Die Zusage, mich probeweise zu beschäftigen und mir bestimmte Aufgaben zu stellen, wäre schlimmer gewesen als eine Ablehnung. Wie konnte ich es verantworten, nach jahrelangem Studium, für das mein Vater Tausende geopfert hatte, meine Zukunft auf einen so unsicheren Grund zu bauen? Er hätte, darüber war ich mir vollkommen klar, seine Zustimmung an die Bedingung geknüpft, unter allen Umständen erst die Prüfung für das Lehramt zu erledigen, um mir die Rückzugslinie freizuhalten. Ich zog die Konsequenzen aus eigenem Entschluss und entwickelte meine Pläne in Berlin nur so weit, dass ich wusste, was ich sofort nach Erledigung der Staatsprüfung in Angriff nehmen wollte.

Mit den Tatsachen und Motiven primitiver Religionsübung hinreichend vertraut, musste ich mit innerer Notwendigkeit zu den höheren Götterkulturen und den grossen Weltreligionen weitergeführt werden. Auf dem Weg von Bastians Büchern konnte ich nicht vorwärtskommen: ihre konfuse Schreibart, der unentwirrbare Mischmasch aus allen möglichen und unmöglichen Literaturen, der die leitenden Gedanken über von Zitaten und Anspielungen wucherte, konnte kein wirkliches Wissen vermitteln. Ich glaubte, dass ich die Weltreligionen und ihre heiligen Bücher in ihrer eigenen Sprache auf mich wirken lasse müsse, um klare Begriffe von ihrem Wesen und ihrer geschichtlichen Erscheinung zu gewinnen. Hätte ich ein Buch wie Chantepis de la Saussaye's Religionsgeschichte gekannt, so hätte ich mich vielleicht damit begnügt, mir die erwünschten Kenntnisse auf dem bequemeren Wege anzueignen. Aber ich war nun von dem Fanatismus des Quellenstudiums gepackt worden, ich wollte alles aus erster Hand haben und fasste den verwegenen Plan, zunächst einmal die Sprache zu lernen, in der die religiösen Urkunden geschrieben waren, ohne eine Ahnung von der Unermesslichkeit der Aufgabe zu haben. Wenn ich im Augenblick auch den Entschluss in die tiefsten Abgründe der Seele versenkte, so war ich doch entschlossen, darauf zurückzukommen, sobald es die Verhältnisse erlaubten.

Um einen billigen Ferienzug benutzen zu können, blieb ich noch bis zum 3. März in Berlin. Ende Februar waren die ersten beunruhigenden Gerüchte über das Befinden des alten Kaisers aufgetaucht. Kaum war ich zu Hause, so brachten die Zeitungen die Nachricht, dass das Leben des Monarchen erloschen war, der keine Zeit hatte, müde zu sein.

 


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© Julius Ruska 1937