Dreiunddreissigstes Kapitel.

Bis zum Staatsexamen.
Was die ländliche Stille von Badenscheuern in den Osterferien noch nicht vermocht hatte, brachte der Aufenthalt in Heidelberg und der Verkehr mit den alten Freunden fertig. Wo man von nichts anderem als vom kommenden Examen sprach, musste alles Berliner Erleben in ein schattenhaftes Nichts versinken.

Ich belegte bei Königsberger analytische Mechanik, die einzige wichtige Vorlesung, die mir noch fehlte, hörte auch noch einmal Mineralogie und absolvierte den zweiten Teil von Quinckes Seminar. Den zuerkannten Seminarpreis benützte ich zum Ankauf einiger Lehrbücher. Am 20. Juni schickte ich meine Papiere nach Karlsruhe, am 7. August kamen die Prüfungsaufgaben. Ich war kurz vorher eine Woche lang zu Hause gewesen, um meiner Mutter Gesellschaft zu leisten, während der Vater mit zwei Freunden München besuchte. Meine Absicht, während der Herbstferien in Heidelberg zu bleiben, um die schriftlichen Arbeiten zu erledigen, und mich den Winter über zu Hause auf die Prüfung vorzubereiten, fand natürlich Billigung.

Die badische Prüfungsordnung unterschied, abgesehen vom Grad des Zeugnisses, zwei Arten von Vorbildung. Die eine mit Mathematik und Physik, die andere mit Chemie und Biologie als Hauptfächern. Da es in den achtziger Jahren noch keine Oberrealschulen und nur zwei Realgymnasien gab, hatte man mit der zweiten Art Zeugnis so gut wie keine Aussicht, in die Oberklassen zu kommen. So war die mathematisch-physikalische Richtung unbestritten die angesehenere Art des Studiums: man konnte damit ohne grosse Anstrengung auch in Chemie und Biologie die Lehrbefähigung für Oberklassen erhalten, da sie praktisch doch kaum in Frage kam.

Die Prüfungen fanden nicht an der Landesuniversität, sondern in Karlsruhe statt, und man wusste nie sicher, von wem man geprüft wurde. Das war besonders für die Mathematiker peinlich, denn die drei Vertreter Mathematik, Königsberger in Heidelberg, Schell in Karlsruhe und Lüroth in Freiburg, vertraten in ihrem Fach die denkbar verschiedensten Richtungen. Wer also nur in Freiburg studiert hatte, fiel herein, wenn Königsberger prüfte, und wir Heidelberger bekamen es zurückbezahlt, wenn Lüroth an der Reihe war. Schell legte besonderen Wert auf Mechanik, das wusste man und richtete sich danach; er galt als ein humaner Examinator.

Im Herbst 87 waren für die sogenannte philosophische Arbeit 7, für die Facharbeit 30 Themen zur Wahl gestellt worden. Für unseren Jahrgang wurden trotz der grossen Zahl von Kandidaten nur drei philosophische und 14 mathematische Arbeiten gegeben. Die mathematischen Themen riefen allgemeine Bestürzung hervor. Die Vermutung, dass sie nicht von Schell, sondern von Lüroth herrührten, bestätigte sich bald. Man brachte die bisher unerhörte Art der Anforderungen mit der Absicht des Oberschulrats zusammen, dem Andrang von Kandidaten durch scharfe Massnahmen entgegenzuwirken, aber das war ein schlechter Trost.

Es schien mir zweckmässig, die allgemeine Arbeit zuerst zu erledigen. Über Vulkanismus und Neptunismus zu schreiben, hatte ich keine Lust. Es wäre zwar nicht schwer gewesen, aus geologischen Lehrbüchern und von Zittels Geschichte der Geologie beliebig viele Seiten zusammenzuschreiben, aber es fehlte mir doch jede eigene Anschauung der vulkanischen Vorgänge und damit das selbstständige Urteil. Auch die Vergleichung von Descartes und Spinoza reizte mich nicht, ich hatte von der Philosophie genug und stand zu den beiden Denkern in keinem näheren Verhältnis. So blieb nur noch das dritte Thema, ein Aufsatz über die Bedeutung Kepplers. Hätte es sich darum gehandelt, Kepplers astronomische Rechenmethoden zu erläutern, so wäre ich der Aufgabe nicht gewachsen gewesen. Über seine Bedeutung konnte ich schreiben, ohne mich allzu tief in Mathematik und Astronomie zu versenken.

Ich hatte in Berlin L. Prowes dreibändiges Werk über Nikolaus Coppernicus studiert und war dadurch zum ersten Mal mit einer biographischen Darstellung bekannt geworden, die ganz und gar auf zeitgenössischen Quellen und Urkunden aufgebaut war. An die Stelle einer farblosen Vorstellung vom heliozentrischen System war das farben- und gestaltenreiche Bild von Coppernicus' Jugendjahren, von seinen Studien in Krakau, Bologna, Padua, von seinem Aufenthalt in Rom und seiner 36jährigen politischen und administrativen Tätigkeit in Ostpreussen getreten, und ich hatte die ganze Geschichte seines astronomischen Lebenswerks kennengelernt. So erschien es mir eine verlockende Aufgabe, wenn auch nur in bescheidenem Umfang eine Darstellung von Kepplers Leben und Wirken zu versuchen, in der die Zeit der Gegenreformation und des 30jährigen Kriegs den Hintergrund abgaben. Ich ahnte nicht, was ich tat, als ich mir nach einigen Vorstudien in R. Wolfs Geschichte der Astronomie Kepplers Werke auf das Lesezimmer bestellte. Es waren neun enggedruckte Foliobände, fast alles lateinisch, die Erläuterungen des Herausgebers und das Leben Kepplers, das allein 460 Seiten umfasste, ebenfalls lateinisch. Nur wie Oasen in der Wüste tauchten auch einmal deutsche Schriften, vor allem Briefe und Urkunden auf. Mir standen höchstens sechs Wochen für die Arbeit zur Verfügung. An den Kern von Kepplers Werken, die astronomischen Berechnungen, konnte ich auf keinen Fall herankommen. In fieberhafter Hast verfolgte ich die Geschichte seines Lebens, die mir die Daten für die Entstehung und das Erscheinen der Werke an die Hand gab. In welche Abgründe von Not, Elend und Verfolgung, in welche übermenschliche Arbeitsleistung liessen mich die Bände seiner Werke blicken! Erfüllt von den Bildern der Zeit, wenn auch mit höchst mangelhafter Einsicht in die Marsberechnungen, die Keppler zu seinen drei Gesetzen führten, schrieb ich dann in wenigen Tagen eine Abhandlung von sechzig Seiten nieder. Ich hatte das Schicksal eines der gewaltigsten deutschen Geister nacherlebt und zum ersten Mal auch aus eigener Bemühung den Reiz wissenschaftsgeschichtlicher Studien kennengelernt.

Am 12. September begann ich mit der mathematischen Arbeit. Die gestellten Themen bewegten sich auf Gebieten, die uns grösstenteils ganz fremd waren und in die man sich in der verfügbaren Zeit auch kaum noch einarbeiten konnte. Ich entschloss mich, die Analyse einer Abhandlung von Beltrami über komplexe Variable auf krummen Flächen, nebst Anwendungen auf Beispiele, durchzuführen. Die Übersetzung war schnell erledigt, aber die Arbeit ging nur langsam und unter grosser Mühe vorwärts. Ende Oktober war ich aber auch damit fertig geworden.

Es ist selbstverständlich, dass ich den Eltern die Kosten eines weiteren Semesters ersparen wollte und ich hoffte wohl auch, in der Stille unseres Hauses besser ungestörter arbeiten zu können als in Heidelberg. Ich vergass, dass der Mensch auch einmal eine Ausspannung und eine Aussprache mit seinen Freunden nötig hat, und empfand, je näher der Termin der Prüfung kam, umso schwerer meine Einsamkeit. Ich hatte jeden Massstab für das nötige Wissen und damit schliesslich das Vertrauen zu mir selbst verloren. Die Unzufriedenheit und Verbitterung meines Vaters über die Schulverhältnisse, die ihn immer wieder zu heftigen Ausbrüchen hinriss, war erst recht nicht geeignet, meine Stimmung zu heben. Waren denn wirklich alle Leute, die es im Leben zu nichts brachten, dafür verantwortlich zu machen? Wieviele scheiterten ohne Schuld? Was hatte ich zu hoffen, wenn ich das Ziel nicht erreichte? Es waren bittere Stunden, die ich durchkämpfen musste. Erst als ich in Karlsruhe mit den anderen Kandidaten zusammentraf und wir uns überzeugten, dass wir alle nicht viel wussten, machte die Verzweiflung dem Galgenhumor Platz. Man konnte uns ja nicht alle durchfallen lassen. Ich verliess das Schlachtfeld mit einem Zeugnis, dass mir die Befähigung zusprach, in sämtlichen Klassen der höheren Schulen Mathematik und Naturwissenschaften zu dozieren. Wo ich diese Tätigkeit einmal ausüben würde, war mir einstweilen gleichgültig; nur ein einziges Gefühl erfüllte mich - endlich erlöst, endlich dein eigener Herr! Alle Qual und aller Druck war wie durch Zauberschlag von mir genommen. Jetzt konnte ich frei meine Ziele wählen, ich sah eine Zukunft mit unbegrenzten Möglichkeiten vor mir liegen.

Wenn ich mirs recht überlegte, so hatte mich der Gang meiner Universitätsstudien vollkommen im Kreis herumgeführt. Nach der Abkehr von allen kirchlichen Gebundenheiten hatte ich in der Philosophie die Deutung des Daseins zu finden gesucht. Ich entdeckte auf dem Weg durch Jahrhunderte grosse Systeme und tiefe Gedanken, die mich längere oder kürzere Zeit beschäftigten, aber keinen Philosophen, dem ich als unbedingtem Führer durch alle Probleme im Reiche des Geistes hätte folgen wollen. Jeder stand im Banne seiner Zeit und wirkte in den Grenzen seiner Persönlichkeit. So wenig mir der Grössenwahn der Theologen noch etwas anhaben konnte, so wenig bedeutete mir der Anspruch auf Absolutheit, den einzelne Philosophen erhoben. Wenn ich mein Verhalten nicht von ewigen Strafen oder Belohnungen abhängig machte, konnte ich die Kirche entbehren. Wenn ich ruhig meinem Gefühl für Recht und Unrecht folgte, bedurfte ich keiner ausgeklügelten moralischen Systeme. Wenn ich von der Relativität unserer Vorstellungen vom Weltganzen durchdrungen war, konnte ich durch Erkenntniskritik und Psychologie zwar zu noch grösserer Vorsicht und Bescheidenheit erzogen werden, aber die Erkenntnisse selbst waren nur aus den Fachwissenschaften, nicht aus den philosophischen Systemen zu gewinnen. Wenn Phil9osphen irgendwo zu neuen Erkenntnissen auf einem Sondergebiet gelangt waren, so hatten sie sich dieses als Mathematiker oder Naturforscher, nicht als Philosophen erarbeitet. Es war mir kein Fall bekannt, wo ein Philosoph durch reine Spekulation unsere Naturerkenntnis um eine weittragende Entdeckung bereichert hatte, wohl aber Dutzende von Beispielen, wo die spekulative Philosophie durch hochmütiges Ignorieren der Naturwissenschaft ihrer Zeit zum Gespött aller Urteilsfähigen geworden war.

Mit der Mathematik als dem Instrument, durch das der Mensch die physikalischen Erscheinungen theoretisch zu bewältigen versuchte, war ich hinreichend vertraut geworden, um ebenso ihre grossen Leistungen wie ihre Schranken zu erkennen. Sie konnte in dem Aufbau meines Lebens keine Rolle mehr spielen, selbst wenn ich einmal als Mathematiklehrer zwanzig Stunden Unterricht zu geben hätte. Auch der Himmel mit seiner räumlich und zeitlich unfassbaren Grösse, die ganze Welt der physikalischen Erscheinungen und die Welt der Atome, soweit sie Gegenstand der chemischen Forschung war, gehörte jetzt nur noch zu den Aussenbezirken meiner Interessen. Ob die letzten Sterne Millionen oder Billionen Lichtjahre von der Erde entfernt waren, ob sie Temperaturen von 10 000 oder 100 000 Graden hatte, sie blieben ebenso unbegreifliche Tatsachen wie Licht und Elektrizität oder chemische Energien. Alles, was in diesem Bereich geschah, vollzog sich nach ewigen, unabänderlichen Gesetzen. Atome, Lichtäther, Gravitation und elektrische Kräfte waren als unzerstörbare Bestandstücke des Weltalls ebenso unbegreiflich wie Raum und Zeit. Auch wenn man sich einen mächtigen Schöpfer hinzu dachte, den man mit allen Fähigkeiten ausrüstete, diese Welt zu erzeugen, war nicht viel gewonnen. Gewiss, es war ein Bedürfnis des Gemüts befriedigt, - aber wie konnte der Mensch es wagen, seine seelischen Bedürfnisse und Gemütsanlagen zum Erklärungsprinzip für Unbegreifliches zu machen?

Und doch - war dieses Nichts von Menschheit, das die Erde bevölkerte, nicht selbst der Schöpfer aller dieser Begriffe und Vorstellungen, dieser Naturgesetze und Erkenntnisse? War nicht der Mensch der Mittelpunkt und das Mass aller Dinge?

Man brauchte den Grössenwahn von Theologen und Philosophen nicht zu teilen und konnte doch zu der Einstellung kommen, dass der Mensch in Natur und Geschichte das vornehmste und wichtigste aller Studienobjekte sei. So war auch bei mir, von allen nur denkbaren Seiten her, der Mensch in den Mittelpunkt der Betrachtung gerückt.

Dem unendlichen Bereich der physikalisch-chemischen Vorgänge stand auf der Erde das Reich des Lebens gegenüber. In tausend Beziehungen an die Gesetze der Physik und Chemie, an irdische und ausserirdische Kraft- und Stoffquellen gebunden, hatte die lebendige Schöpfung auf Erden doch ihren eigenwilligen Entwicklungsgang genommen. Was war das Leben? Wodurch unterschied sich das lebende Geschöpf von jeder unorganischen Gestaltung? Auch diese Fragen hatten die denkende Menschheit seit Jahrtausenden beschäftigt. Die Theologen hatten sich die Sache leicht gemacht, aber auch unter den Naturforschern gab es berühmte Leute, die im Handumdrehen mit dem Problem fertig wurden. Die eine liessen das erste Lebewesen aus einem Urschleim im Urozean entstehen, die anderen nahmen an, dass die Keime aus dem Weltall auf die Erde geflogen seien. Man konnte diese Lösungen wirklich nicht ernst nehmen. Nur der Entwicklungsgedanke schien eine Weg aus dem Dunkel zu zeigen. Die Paläonthologie konnte nachweisen, dass gewisse Bautypen von Pflanzen und Tiere in unendlich ferne Zeiträume zurückreichten, andere aber erst in jüngeren Epochen entstanden waren. In einigen Fällen war die langsame Umbildung nachzuweisen, in anderen fehlten die Übergänge. Das konnte Zufall sein und änderte nichts an den grundlegenden Tatsachen. Wollte man die eigengesetzliche Umwandlung und Weiterbildung der Pflanzen und Tiere nicht anerkennen, so blieb nur die Annahme immer neuer Schöpfungsakte und göttlicher Eingriffe in die Naturordnung übrig. Eine solche Erklärung aber war schlechter als gar keine. Verfolgte man, um nur das Wichtigste herauszugreifen, die erdgeschichtlichen Zeugnisse für die Entwicklung des Wirbeltierstamms, so ergab sich ein widerspruchsloses Bild stetigen Fortschreitens von Wasser- zu Landtieren, von Reptilien zu Vögeln, von unvollkommenen zu vollkommeneren Säugetieren, unter denen der Mensch als das jüngste Glied wieder einen neuen Abschnitt in der Geschichte des Lebens bedeutete.

Den geologischen Urkunden traten die Ergebnisse der vergleichenden Anatomie, die die Gestaltung des Individuums von der Befruchtung durch alle Entwicklungszustände bis zur Reife verfolgte, als wichtigste Stütze zur Seite. Unendliche Reihen von Beobachtungen und Experimenten klärten die tatsächlichen Vorgänge und die Einflüsse von Erbmasse und Umwelt, geistreiche Theorien versuchten den treibenden Kräften der Entwicklung und Umformung der Organismen auf die Spur zu kommen. Aber blieb man nicht mit dem Versuch, das Leben mechanistisch zu deuten, an den Aussenwerken stehen, konnten die Formen und Lebensvorgänge bei Pflanzen und Tieren irgendwie mit dem rein mechanischen Aufbau eines Kristalls verglichen werden? Ich konnte keine Brücke zu dem Reich des Organischen entdecken, hier klaffte ein Sprung, der nur durch die Annahme irgendeines neuen Prinzips, wie man es auch nennen wollte, zu überbauen war. War die Welt an sich schon ein unfassbares Wunder, warum scheute man sich, ein regulierendes geistartiges Prinzip zuzulassen, das alle so sinnvollen Vorgänge im Organismus leitete, das in seiner höchsten Entfaltung zugleich die Erklärung für jede geistige Leistung des Menschen enthielt? Ich kannte natürlich auch die Bedenken, die gegen diese Annahme sprachen, aber es war mir ganz unmöglich, an eine reine mechanische Erklärung der Lebensvorgänge und aller aus ihnen entspringenden Formen zu glauben.

Aufs Tiefste von der Einheit alles Lebens durchdrungen, war mir jede Blume wie eine Schwester, jeder Schmetterling und Vogel wie ein Bruder geworden. Ich fand nichts dabei, das eigene Dasein als ebenso vergänglich und schattenhaft zu empfinden, wie das jeden anderen lebenden Wesens. Das tiefe beglückende Gefühl der Naturverbundenheit ersetzte mir reichlich, was ich an Aussicht auf Unsterblichkeit und himmlische Freuden verlor. Nichts war mir fremd, nichts stand unter mir, was mir im Feld und Wald begegnen mochte. Das Bewusstsein, im innersten Wesen mit jeder Pflanze, jedem Tier verwandt zu sein, hatte mir ein ganz neues Selbstgefühl gegeben. Ich entsinne mich nicht, jemals mit Zoologen über diese Dinge gesprochen zu haben; man hätte mir schwerlich etwas sagen können, was die ewige Frage nach dem Sinn und Wesen des Lebens besser löste. Im Grunde war es einerlei, wie man sie zu lösen suchte, da sie doch nie zu lösen war.

Es lag in der Linie meiner Entwicklung, dass mir alles wichtig wurde, was mich auf die Abstammung und den geistigen Aufstieg des Menschen werfen konnte. Eiszeitgeologie, Abstammungslehre, Urgeschichte, Völkerkunde, Völkerpsychologie und was ich sonst noch von scheinbar abgelegenen Dingen während der Universitätsjahre in den Kreis meiner Interessen zog, diente dem gleichen Ziel, mir über die Voraussetzungen des eigenen Daseins klar zu werden. So war ich in Berlin zuletzt bei dem Gedanken angelangt, der Religionsgeschichte eingehenderes Studium zu widmen, und vor allem die Psychologie der religiösen Institutionen und ihren weltgeschichtlichen Auswirkungen zu verfolgen.

Aber nun war ich Grossherzoglich Badischer Lehramtspraktikant und wurde in absehbarer Zeit vor die Aufgabe gestellt, Quintaner in die Geheimnisse der Bruchlehre oder Quartaner in die Anfangsgründe der Botanik einzuführen. Vielleicht hatte ich lebenslang nichts anderes mehr zu tun, als Gleichungen aufzulösen und ein wenig Physik oder Naturgeschichte zu betreiben. Lohnte es sich da, den verstiegenen Berliner Plänen noch nachzuhängen? Solle ich nach einem so trostlosen Winter die wenigen freien Monate bis zum Eintritt in den Schuldienst wieder nur hinter Büchern sitzen?

Nein, alles hatte seine Grenzen! Ich hatte ein Recht darauf, nun endlich meines Lebens froh zu werden. Bis zum Spätjahr war ich frei, ich konnte erst im September am Gymnasium als Volontär eintreten. So kam es nur darauf an, welchen Gebrauch ich von der Freiheit machen wollte.


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© Julius Ruska 1937