Fünfunddreissigstes Kapitel.

Der Probekandidat.
Der Tag kam heran, an dem ich meine pädagogische Laufbahn beginnen sollte. Wäre ich nicht schon als Volontär für das neue Schuljahr verpflichtet gewesen, so hätte ich mir wohl die Erlaubnis erwirkt, an der Versammlung der Deutschen Naturforscher in Heidelberg teilzunehmen. Mancher von meinen Freunden hat die denkwürdige Sitzung mitgemacht, auf der Heinrich Hertz seinen Vortrag über die elektrischen Wellen hielt, einige waren auch in verschiedenen Sektionen als Schriftführer tätig. Welche unermesslichen Entwicklungen haben sich doch seit jenen Tagen auf dem Gebiet der Naturwissenschaft vollzogen!

Mein alter Lehrer, Prof. Follenius, war 1886 an das Badener Gymnasium versetzt worden und sollte jetzt durch mich entlastet werden. Ich bekam den Unterricht in Mathematik und Physik in der Untersekunda zugewiesen. Eine Einführung in die Kunst des Unterrichts hielt man damals noch für überflüssig, und in meinem Fall war sie es auch, da ich mich nach den mir bekannten Heften zu richten hatte. Meiner Überlegenheit über sekundanerhafte Unreife war ich so gewiss, dass ich es für undenkbar hielt, Schwierigkeiten zu bekommen. Ich brauchte nur mit ebensoviel Ernst und Bestimmtheit, wie mit vornehmer Haltung vor die Klasse zu treten, und alles musste wie am Schnürchen gehen.

Vielleicht hätte ich klüger getan, mich auch auf andere Möglichkeiten gefasst zu machen. Es war doch merkwürdig, dass der Mann, vor dem wir noch als Primaner den grössten Respekt gehabt hatten, sich in so bitterer Kritik über die Verhältnisse an der Schule ausliess. Und was mein kleiner Bruder über die Bübereien erzählte, die sich eine gewisse Schicht von Schülern ungestraft gegen alte Lehrer erlauben konnte, hätte mir sagen müssen, dass ich als unerfahrener Anfänger nichts Besseres erwarten durfte.

Die Mathematikstunden liessen sich ganz gut an, in der Physik aber bekam ich schon in der ersten Stunde Schwierigkeiten. Hier, wo man Augen und Ohren überall haben muss, hatte ich beim Experimentieren mit wachsender Unruhe zu kämpfen. Follenius hatte mich schon darauf vorbereitet, dass der Unterricht im Physiksaal durch die Geräusche gestört werde, die beim Geräteturnen von der darunter liegenden Turnhalle heraufkämen. In der Tat, auch ich machte die Erfahrung, dass das Klappern, Stampfen und Stossen in unerträglicher Weise die Ruhe störte. Nur war mir sofort klar, dass der ganze Spektakel nicht aus der Turnhalle heraufkam, sondern im Physiksaal selbst unter den Bänken hervorgezaubert wurde. Ich sagte das den Jungen auf den Kopf zu und verbat mir den Unfug, aber es war peinlich, den alten Herrn über seinen Irrtum aufzuklären. Als die Störungen in den Physikstunden trotzdem nicht aufhörten, beschwerte ich mich beim Klassenvorstand. Das half eine Weile, bis einige besonders freche Gesellen wieder anfingen. Offenbar war ihnen die Physik nicht interessant genug. Auch eine Arreststrafe machte keinen Eindruck, die vom Direktor verhängt wurde. Mit der klassischen Begründung, dass der Arrest ja doch nichts geholfen habe, weigerte sich der Direktor, weitere Strafen zu verhängen. Gewiss, wenn sich im Dienst ergraute Männer von einer Rotte Buben alles gefallen lassen mussten, so hatte ein Volontär erst recht keinen Anspruch auf Wahrung seiner Würde.

Von meinem Misserfolg niedergedrückt, von der Nutzlosigkeit aller Anstrengungen, mit der Klasse in ein vernünftiges Verhältnis zu kommen, mehr und mehr überzeugt, begann ich an meine Eignung für den Lehrberuf zu verzweifeln. Da wurde ich am 10. November zur Vertretung eines erkrankten Professor nach Durlach befohlen - das war meine Rettung. Follenius beglückwünschte mich mit herzlichen Worten zu der Versetzung; er hoffte, dass ich nicht wieder nach Baden zurückkehren müsse.

In Durlach wurde ich von Direktor Büchle freundlich empfangen und in meine neue Aufgabe eingewiesen. Die Schule war ein Progymnasium mit Realabteilungen. Der Mathematiker, Prof. Wacker, befand sich wegen eines schweren Augenleidens in einer Karlsruher Klinik in Behandlung und ich hatte seinen ganzen Unterricht zu übernehmen. Welch ein Wunder erlebte ich jetzt! Die Schüler beteiligten sich mit grösstem Eifer in den Stunden, keiner erlaubte sich eine Ungezogenheit, es gab nicht die geringsten Schwierigkeiten. Ich war mit einem Mal von einem schweren Druck befreit. So war der Misserfolg in Baden doch nicht ganz meine Schuld? So kam es in erster Linie auf den Geist der Schule an?

Schon nach acht Tagen schrieb ich nach Hause: "Hier ist es ein wahres Vergnügen, Schule zu halten. Die Disziplin versteht sich von selbst, und bei den meisten Schülern auch der gute Wille." Auch beim Abschluss der Durlacher Episode hatte ich keinen Anlass, dieses Urteil zu ändern. Der Direktor hatte eine ebenso bestimmte wie gewinnende Art, mit Schülern und Kollegen umzugehen. Die Lehrer waren noch nicht überaltert und harmonierten miteinander. Kein Wunder dass mich der Wechsel der Schule glücklich machte. Die volle Beschäftigung, die Vorbereitung der Experimente für den Physikunterricht, die mathematischen Korrekturen liessen mir allerdings tagsüber wenig Zeit, und wenn ich nach Erledigung aller Pflichten noch eine Stunde spazierenging oder mit jungen Kollegen im Lamm bei Schweinsrippchen und Sauerkraut abends etwas länger sitzenblieb, als unbedingt nötig war, so war mir daraus kein Vorwurf zu machen. Ich hatte lange genug ein Einsiedlerleben geführt; mein Zimmer war kalt, und wenn ich heizen liess, musste ich mehr dafür zahlen, als ich im Gasthaus verausgabte.

Durch die Tagegelder, die ich während der Durlacher Zeit bezog, hatte ich ein wahrhaft fürstliches Einkommen und war leichtfertig genug, es restlos aufzubrauchen. Wozu lag Karlsruhe vor den Toren? Und wozu war Felix Mottl dort Hofkapellmeister? Ich fuhr wohl jede Woche zweimal nach der Residenz, um Konzerte und Opernaufführungen zu besuchen. Eine Aufführung des Tristan ist mir unvergesslich geblieben.

Nach Karlsruhe zogen mich auch die alten Freunde, die dort an verschiedenen Schulen tätig waren. Wie ungleich lagen doch überall die Verhältnisse! Wieviele junge Kollegen hatten auch dort mit Schwierigkeiten zu kämpfen. Wo gab es nicht zu klagen, wo waren nicht hochgespannte Erwartungen enttäuscht worden! Auch diese Aussprachen trugen dazu bei, mir die innere Sicherheit und das Selbstvertrauen wieder zu geben. In manchen Hinsicht ernüchtert, aber auch wesentlich gefestigt und beruhigt, sah ich das Ende der Vertretung herankommen. Ich verabschiedete mich von der Schule und von den Kollegen, herzlich dankbar, dass ich hier wenigstens musterhafte Ordnung kennen gelernt hatte.

Ich hatte nun noch sieben Monate am Badener Gymnasium auszuhalten, eine endlose Zeit, wenn sich die gleichen Schwierigkeiten wieder einstellten. Ich begann, den unverbesserlichen Knoten gegenüber die vornehme Haltung, die sie weder würdigen noch vertragen konnten, durch ironische Behandlung und Unnachgiebigkeit in den Anforderungen zu ersetzen. Dadurch kam ich mit dem anständigen Teil der Klasse in ein so nettes Verhältnis, wie ich es mir nur wünschen mochte. Zwei von meinen damaligen Schülern, ein Arzt und ein Jurist, sind mir später liebe Freunde geworden, an die meisten anderen habe ich nur schattenhafte Erinnerungen bewahrt.

Wie die Dinge sich weiter entwickeln würden, wenn ich eine richtige Stelle erhielt, war schwer vorauszusehen. Welche Gegensätze an verschiedenen Anstalten möglich waren, hatte ich nun selbst erlebt. Was mir aus persönlichen Aussprachen und durch Briefwechsel mit Freunden bekannt wurde, war meist auch nicht ermutigend.. Es hing unendlich viel vom Direktor ab. Es kam darauf an, ob man als Mensch geachtet und mit seiner ehrlichen Arbeit anerkannt wurde, oder als Nummer in einem Betrieb Kasernendienst zu tun hatte. Es war ein Unglück, wenn ein Ignorant oder ein erbärmlicher Charakter in eine Stellung berufen war, in der er nur Unheil stiften konnte. Es war auch nicht gleichgültig, in welchen Ort man verschlagen wurde. Je kleiner die Stadt war, je enger die Verhältnisse, desto weniger konnte man sich einer überall gleichen Gesellschaft entziehen und seines eigenen Wesens froh werden. Das hatten mich schon die wenigen Wochen in Durlach gelehrt, dass ich das Wirtshaussitzen mit der unvermeidlichen Pädagogik und Bierbankpolitik, jeden Abend mit den gleichen Leuten, auf die Dauer nicht ertragen würde. Als Gegensatz zu der Vereinsamung in Scheuern mochte ich mir diese Art Geselligkeit wohl eine Weile gefallen lassen, aber darin unterzugehen, das war nicht meine Meinung.

Schon in Baden lagen die Verhältnisse viel günstiger. Wenn ich nur erst über die Unfreiheit hinaus war, in die mich der gewollte Verzicht auf weitere Gaben von zu Hause versetzte. Wenn ich erst einmal angestellt war, musste sich die Lage vollständig ändern. Ich konnte Theater und Konzerte besuchen, ich konnte auch, wenn ich das Talent dazu entdeckte, unter den Kolonnaden des Konversationshauses und in den eleganten Cafés oder auf den Tennisplätzen das Leben vertändeln; ich konnte auch an geistig gerichtete Menschen in und ausserhalb der Schule Anschluss suchen. Möglichkeiten dazu gab es in dem Weltbad genug. Ich hatte ebenso gut die Freiheit, mich von aller Welt zurückzuziehen und mein Einsiedlerleben weiterzuführen.

Es ist müssig, sich darüber Gedanken zu machen, wie sich mein Schicksal gestaltet hätte, wenn ich in Baden geblieben wäre. Entscheidend war, dass ich nach Heidelberg kam und dort meine Entschlussfreiheit wiedergewann. Doch ehe es so weit kam, waren noch kummervolle Tage über uns verhängt.


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© Julius Ruska 1937