Der
Tag kam heran, an dem ich meine pädagogische
Laufbahn beginnen sollte. Wäre ich nicht schon als
Volontär für das neue Schuljahr verpflichtet
gewesen, so hätte ich mir wohl die Erlaubnis
erwirkt, an der Versammlung der Deutschen Naturforscher
in Heidelberg teilzunehmen. Mancher von meinen Freunden
hat die denkwürdige Sitzung mitgemacht, auf der
Heinrich Hertz seinen Vortrag über die elektrischen
Wellen hielt, einige waren auch in verschiedenen
Sektionen als Schriftführer tätig. Welche
unermesslichen Entwicklungen haben sich doch seit jenen
Tagen auf dem Gebiet der Naturwissenschaft
vollzogen!
Mein
alter Lehrer, Prof. Follenius, war 1886 an das Badener
Gymnasium versetzt worden und sollte jetzt durch mich
entlastet werden. Ich bekam den Unterricht in Mathematik
und Physik in der Untersekunda zugewiesen. Eine
Einführung in die Kunst des Unterrichts hielt man
damals noch für überflüssig, und in meinem
Fall war sie es auch, da ich mich nach den mir bekannten
Heften zu richten hatte. Meiner Überlegenheit
über sekundanerhafte Unreife war ich so gewiss, dass
ich es für undenkbar hielt, Schwierigkeiten zu
bekommen. Ich brauchte nur mit ebensoviel Ernst und
Bestimmtheit, wie mit vornehmer Haltung vor die Klasse zu
treten, und alles musste wie am Schnürchen
gehen.
Vielleicht
hätte ich klüger getan, mich auch auf andere
Möglichkeiten gefasst zu machen. Es war doch
merkwürdig, dass der Mann, vor dem wir noch als
Primaner den grössten Respekt gehabt hatten, sich in
so bitterer Kritik über die Verhältnisse an der
Schule ausliess. Und was mein kleiner Bruder über
die Bübereien erzählte, die sich eine gewisse
Schicht von Schülern ungestraft gegen alte Lehrer
erlauben konnte, hätte mir sagen müssen, dass
ich als unerfahrener Anfänger nichts Besseres
erwarten durfte.
Die
Mathematikstunden liessen sich ganz gut an, in der Physik
aber bekam ich schon in der ersten Stunde
Schwierigkeiten. Hier, wo man Augen und Ohren
überall haben muss, hatte ich beim Experimentieren
mit wachsender Unruhe zu kämpfen. Follenius hatte
mich schon darauf vorbereitet, dass der Unterricht im
Physiksaal durch die Geräusche gestört werde,
die beim Geräteturnen von der darunter liegenden
Turnhalle heraufkämen. In der Tat, auch ich machte
die Erfahrung, dass das Klappern, Stampfen und Stossen in
unerträglicher Weise die Ruhe störte. Nur war
mir sofort klar, dass der ganze Spektakel nicht aus der
Turnhalle heraufkam, sondern im Physiksaal selbst unter
den Bänken hervorgezaubert wurde. Ich sagte das den
Jungen auf den Kopf zu und verbat mir den Unfug, aber es
war peinlich, den alten Herrn über seinen Irrtum
aufzuklären. Als die Störungen in den
Physikstunden trotzdem nicht aufhörten, beschwerte
ich mich beim Klassenvorstand. Das half eine Weile, bis
einige besonders freche Gesellen wieder anfingen.
Offenbar war ihnen die Physik nicht interessant genug.
Auch eine Arreststrafe machte keinen Eindruck, die vom
Direktor verhängt wurde. Mit der klassischen
Begründung, dass der Arrest ja doch nichts geholfen
habe, weigerte sich der Direktor, weitere Strafen zu
verhängen. Gewiss, wenn sich im Dienst ergraute
Männer von einer Rotte Buben alles gefallen lassen
mussten, so hatte ein Volontär erst recht keinen
Anspruch auf Wahrung seiner Würde.
Von
meinem Misserfolg niedergedrückt, von der
Nutzlosigkeit aller Anstrengungen, mit der Klasse in ein
vernünftiges Verhältnis zu kommen, mehr und
mehr überzeugt, begann ich an meine Eignung für
den Lehrberuf zu verzweifeln. Da wurde ich am 10.
November zur Vertretung eines erkrankten Professor nach
Durlach befohlen - das war meine Rettung. Follenius
beglückwünschte mich mit herzlichen Worten zu
der Versetzung; er hoffte, dass ich nicht wieder nach
Baden zurückkehren müsse.
In
Durlach wurde ich von Direktor Büchle freundlich
empfangen und in meine neue Aufgabe eingewiesen. Die
Schule war ein Progymnasium mit Realabteilungen. Der
Mathematiker, Prof. Wacker, befand sich wegen eines
schweren Augenleidens in einer Karlsruher Klinik in
Behandlung und ich hatte seinen ganzen Unterricht zu
übernehmen. Welch ein Wunder erlebte ich jetzt! Die
Schüler beteiligten sich mit grösstem Eifer in
den Stunden, keiner erlaubte sich eine Ungezogenheit, es
gab nicht die geringsten Schwierigkeiten. Ich war mit
einem Mal von einem schweren Druck befreit. So war der
Misserfolg in Baden doch nicht ganz meine Schuld? So kam
es in erster Linie auf den Geist der Schule
an?
Schon
nach acht Tagen schrieb ich nach Hause: "Hier ist es ein
wahres Vergnügen, Schule zu halten. Die Disziplin
versteht sich von selbst, und bei den meisten
Schülern auch der gute Wille." Auch beim Abschluss
der Durlacher Episode hatte ich keinen Anlass, dieses
Urteil zu ändern. Der Direktor hatte eine ebenso
bestimmte wie gewinnende Art, mit Schülern und
Kollegen umzugehen. Die Lehrer waren noch nicht
überaltert und harmonierten miteinander. Kein Wunder
dass mich der Wechsel der Schule glücklich machte.
Die volle Beschäftigung, die Vorbereitung der
Experimente für den Physikunterricht, die
mathematischen Korrekturen liessen mir allerdings
tagsüber wenig Zeit, und wenn ich nach Erledigung
aller Pflichten noch eine Stunde spazierenging oder mit
jungen Kollegen im Lamm bei Schweinsrippchen und
Sauerkraut abends etwas länger sitzenblieb, als
unbedingt nötig war, so war mir daraus kein Vorwurf
zu machen. Ich hatte lange genug ein Einsiedlerleben
geführt; mein Zimmer war kalt, und wenn ich heizen
liess, musste ich mehr dafür zahlen, als ich im
Gasthaus verausgabte.
Durch
die Tagegelder, die ich während der Durlacher Zeit
bezog, hatte ich ein wahrhaft fürstliches Einkommen
und war leichtfertig genug, es restlos aufzubrauchen.
Wozu lag Karlsruhe vor den Toren? Und wozu war Felix
Mottl dort Hofkapellmeister? Ich fuhr wohl jede Woche
zweimal nach der Residenz, um Konzerte und
Opernaufführungen zu besuchen. Eine Aufführung
des Tristan ist mir unvergesslich geblieben.
Nach
Karlsruhe zogen mich auch die alten Freunde, die dort an
verschiedenen Schulen tätig waren. Wie ungleich
lagen doch überall die Verhältnisse! Wieviele
junge Kollegen hatten auch dort mit Schwierigkeiten zu
kämpfen. Wo gab es nicht zu klagen, wo waren nicht
hochgespannte Erwartungen enttäuscht worden! Auch
diese Aussprachen trugen dazu bei, mir die innere
Sicherheit und das Selbstvertrauen wieder zu geben. In
manchen Hinsicht ernüchtert, aber auch wesentlich
gefestigt und beruhigt, sah ich das Ende der Vertretung
herankommen. Ich verabschiedete mich von der Schule und
von den Kollegen, herzlich dankbar, dass ich hier
wenigstens musterhafte Ordnung kennen gelernt
hatte.
Ich
hatte nun noch sieben Monate am Badener Gymnasium
auszuhalten, eine endlose Zeit, wenn sich die gleichen
Schwierigkeiten wieder einstellten. Ich begann, den
unverbesserlichen Knoten gegenüber die vornehme
Haltung, die sie weder würdigen noch vertragen
konnten, durch ironische Behandlung und Unnachgiebigkeit
in den Anforderungen zu ersetzen. Dadurch kam ich mit dem
anständigen Teil der Klasse in ein so nettes
Verhältnis, wie ich es mir nur wünschen mochte.
Zwei von meinen damaligen Schülern, ein Arzt und ein
Jurist, sind mir später liebe Freunde geworden, an
die meisten anderen habe ich nur schattenhafte
Erinnerungen bewahrt.
Wie
die Dinge sich weiter entwickeln würden, wenn ich
eine richtige Stelle erhielt, war schwer vorauszusehen.
Welche Gegensätze an verschiedenen Anstalten
möglich waren, hatte ich nun selbst erlebt. Was mir
aus persönlichen Aussprachen und durch Briefwechsel
mit Freunden bekannt wurde, war meist auch nicht
ermutigend.. Es hing unendlich viel vom Direktor ab. Es
kam darauf an, ob man als Mensch geachtet und mit seiner
ehrlichen Arbeit anerkannt wurde, oder als Nummer in
einem Betrieb Kasernendienst zu tun hatte. Es war ein
Unglück, wenn ein Ignorant oder ein
erbärmlicher Charakter in eine Stellung berufen war,
in der er nur Unheil stiften konnte. Es war auch nicht
gleichgültig, in welchen Ort man verschlagen wurde.
Je kleiner die Stadt war, je enger die Verhältnisse,
desto weniger konnte man sich einer überall gleichen
Gesellschaft entziehen und seines eigenen Wesens froh
werden. Das hatten mich schon die wenigen Wochen in
Durlach gelehrt, dass ich das Wirtshaussitzen mit der
unvermeidlichen Pädagogik und Bierbankpolitik, jeden
Abend mit den gleichen Leuten, auf die Dauer nicht
ertragen würde. Als Gegensatz zu der Vereinsamung in
Scheuern mochte ich mir diese Art Geselligkeit wohl eine
Weile gefallen lassen, aber darin unterzugehen, das war
nicht meine Meinung.
Schon
in Baden lagen die Verhältnisse viel günstiger.
Wenn ich nur erst über die Unfreiheit hinaus war, in
die mich der gewollte Verzicht auf weitere Gaben von zu
Hause versetzte. Wenn ich erst einmal angestellt war,
musste sich die Lage vollständig ändern. Ich
konnte Theater und Konzerte besuchen, ich konnte auch,
wenn ich das Talent dazu entdeckte, unter den Kolonnaden
des Konversationshauses und in den eleganten Cafés
oder auf den Tennisplätzen das Leben
vertändeln; ich konnte auch an geistig gerichtete
Menschen in und ausserhalb der Schule Anschluss suchen.
Möglichkeiten dazu gab es in dem Weltbad genug. Ich
hatte ebenso gut die Freiheit, mich von aller Welt
zurückzuziehen und mein Einsiedlerleben
weiterzuführen.
Es
ist müssig, sich darüber Gedanken zu machen,
wie sich mein Schicksal gestaltet hätte, wenn ich in
Baden geblieben wäre. Entscheidend war, dass ich
nach Heidelberg kam und dort meine Entschlussfreiheit
wiedergewann. Doch ehe es so weit kam, waren noch
kummervolle Tage über uns verhängt.