Vierunddreissigstes Kapitel.

Botanische Wanderungen.
Ein Frühling ohnegleichen begann, seine Blüten über das Badener Tal auszustreuen. War es zu verwundern, dass es mich nach der trostlosen Gefangenschaft des Winters mit Macht auf die Berge, in den Wald hinaustrieb? Das Erwachen der Natur, das ich in Kindertagen sorglos und froh, halb unbewusst im Spielen erlebt hatte, kam jetzt, wo ich innerlich frei war, wie ein unerhörtes Wunder über mich.

Solange das Bücherstudium die beste Zeit verschlang und die Mathematik mit ihren abstrakten Theorien den Weg zur Natur versperrte, konnte von planmässigen botanischen Wanderungen keine Rede sein. Im Botanischen Garten hatte ich mir keine floristischen Kenntnisse erwerben können. So gern ich mich dort aufhielt, so hatten die Besuche und Rundgänge doch nur den grossen Gruppen des Systems und den Charakterpflanzen fremder Zonen gegolten. Jetzt verfüge ich über unbeschränkte Zeit; wenn ich doch einmal anfing, Pflanzen zu sammeln, so war es nicht weit zu dem Entschluss, nichts unbeachtet zu lassen, was Blätter und Blüten trug. Bald genug sah ich, wie wenig ich eigentlich wusste. Wieviel selbst an den bekanntesten Pflanzen, an jedem Unkraut Neues zu beobachten war. Es genügte mir nicht mehr, blühende Pflanzen nach der Flora zu bestimmen und als Dörrgemüse aufzuspeichern, ich begann jetzt, was sich entfaltete, in allen Entwicklungszuständen zu studieren, mit Skalpell und Nadel zu zerlegen und mit der Lupe zu betrachten. Vor allem aber gewöhnte ich mich daran, alle kleinen Einzelheiten, die mir beachtenswert schienen, zu zeichnen, manches auch mit Farbstiften oder Wasserfarben auszuführen. So erarbeitete ich mir ein sicheres Wissen, das auf keine andere Weise zu erwerben war.

In den ersten Wochen genügten zwei oder drei Stunden, um von Äckern und Wiesen, Rainen und Waldrändern soviel Pflanzen zusammenzuraffen, dass der Rest des Tages mit Bestimmen und Zeichnen voll ausgefüllt war. Als ich die Ausflüge weiter ausdehnen musste, begann ich, die ganzen Nachmittage dafür zu verwenden. Ich hatte dann sechs bis sieben Stunden zur Verfügung, wenn ich gleich nach dem Mittagessen aufbrach. Wie manchen Sommertags hätte ich zu gedenken, an dem ich von einem Trab durch die glühende Rheinebene verbrannt und ausgedörrt mit meinem Pflanzenbündel heimwärts zog! Wie manchen Rundwegs in den Bergen, von dem ich müd und hungrig an den geputzten Badegästen in der Lichtentaler Allee vorüberschlich. Die welken Pflanzen kamen in einen Wasserkrug, am anderen Morgen hatten sie sich erholt und konnten zergliedert und bestimmt werden; am Nachmittag zog ich zu neuen Entdeckungen aus.

Man konnte sich kaum ein abwechslungsreicheres Gelände und mannigfachere Bodenformen denken, als sie die weitere Umgebung von Baden bot. In dem Dreieck zwischen Scheuern, Oos und Haueneberstein lagen Lösshügel mit Äckern und Wiesen, Obstgärten und Weinbergen, dahinter als erste Erhebung der Hardberg mit Sandsteinbrüchen und Föhrenwäldern, südlich der Oos beherrschte der mächtige Sandsteinrücken des Fremersbergs die Landschaft. Zwischen dem Battert und dem vorderen Murgtal erstreckte sich ein breites Gebiet von Rotliegendem, dem sich im Süden die jüngeren Porphyrergüsse der Yburg und andere Berge anschlossen. In weitem Umkreis nach Süden folgte die tiefdurchfurchte, wald- und wasserreiche Landschaft des Bühlertal-Granits, bis man, immer höher steigend, die Buntsandsteinrücken erreichte, die mit ihren herrlichen Nadelwäldern und ihrem Latschengestrüpp dem Nordschwarzwald seine besondere Note geben. Draussen aber, vor den Lösshügeln und Weinbergen, die den Schwarzwald säumen, dehnte sich endlos die Rheinebene mit ihren Bächen und Gräben, ihren Äckern und Wiesen, Föhrenbeständen und Auwäldern. Von den geologischen Vorgängen, die dieses Landschaftsbild geschaffen hatten, besass ich damals nichts weniger als klare Vorstellungen. Ich hätte nicht sagen können, woher der Löss kam, oder weshalb man unter dem Löss bei Balg einen weissen Sand abbaute, ich wusste nicht, warum es an einem Weg gegen Kuppenheim Kalksteinbrüche gab und warum der Gipfel des Merkur aus Sandstein bestand. Ich sah Einzelheiten, aber es fehlte hier der Blick für die grossen Zusammenhänge. Meinen botanischen Zwecken genügte die Unterscheidung von nassen, trockenen, schattigen und sonnigen, felsigen, lehmigen und sandigen Standorten, dazu brauchte ich keine Erdgeschichte.

Ich konnte gedankenlos durch Berg und Tal schlendern und die Tage geniessen, wie Gott sie gab. Wenn es herrlich war, von einem Gipfel in das weite Land hinabzuschauen, oder stundenlang einem murmelnden Waldbach zu folgen, so war es nicht weniger schön, am Waldrand in der Sonne zu sitzen und das Vogelgezwitscher oder das Geschwirr der Insekten über den blühenden Wiesen zu belauschen. Das Grösste und das Kleinste, die fliehenden Wolken, die fernen blauen Berge, das Heidekraut zu meinen Füssen mit allem, was da kroch und flog, alles schloss sich zusammen zu einem unendlichen, unbeschreiblichen Gefühl von Glück und Lebensfreude.

Wenn ich anfangs ohne besondere Ziele mitnahm, was ich gerade auf meinen Wagen fand, so wurden mir doch bald auch Lücken und Mängel in meinen botanischen Kenntnissen bewusst, die ich planmässig zu beseitigen suchte. Ich kannte allerhand Bäume und Sträucher von Jugend auf, aber ich hatte ein Gymnasium absolviert und auf der Universität Botanik getrieben, ohne das Mindeste von ihrem Wachsen und Blühen dazugelernt zu haben. Ich konnte Roggen, Weizen und Gerste unterscheiden, aber ich kannte keine fünf Wiesengräser. Ich hatte allerhand von Prosenchym und Parenchym, von Turgor und Osmose gehört und über Befruchtung der Algen und Pilze gelesen, aber vom nächstliegenden, von dem, was ich für meine Buben brauchte, hatte ich keine Ahnung. Das war eben auch keine Wissenschaft. Aber was half mir alle Wissenschaft, wenn ich mich vor Quartanern blamierte? Ich nahm mir vor, nicht zu ruhen, bis ich alle erreichbaren Holzgewächse, Baum und Strauch sicher kannte und ihre Entwicklung von der Knospe bis zur Frucht durch die Jahreszeiten verfolgt hatte. In gleichem Sinne begann ich, mich den artenreichen Familien der Gräser und Riedgräser, der Doldenpflanzen, Korbblütler und wie sie alle hiessen, zuzuwenden. Nur für Weiden, Brombeeren und Rosen mit ihren vollen Formen und Bastarden konnte ich nicht genügend Geduld aufbringen. Aus der Beschäftigung mit solchen Steckenpferden eine Lebensaufgabe zu machen, wäre mir nie möglich gewesen.

Die Schulflora, die ich zum Bestimmen benützte, enthielt noch keine Standortangaben; ich konnte ihr nur entnehmen, ob eine Pflanze in Baden häufig, selten oder sehr selten vorkam. Von einer Gliederung der Fundorte nach geographischen Bezirken und Bodenarten, wie man sie heute fast überall findet, oder gar von Ortsangaben, war noch keine Rede, und so konnte manche Hoffnung auf seltenere Funde aufkommen, die sich nie erfüllen wollte. Dass die Standorte die Lebensbedingungen der Gewächse widerspiegelten und man in einem Kornfeld andere Pflanzen finden musste, als in einem Buchenwald oder an einem Wassergraben, war ja selbstverständlich. Je länger ich die ganze Umgebung durchwanderte, desto mehr verfeinerte sich die Kenntnis und Unterscheidung der natürlichen Florengebiete, desto sicherer konnte ich voraussagen, was an diesem oder jenem Platz zu finden war. Das ist mir auch später noch, als die Schulfloren genauere Ortsangaben brachten, zu gut gekommen.

Zum Glück schliessen auch die genauesten Angaben Überraschungen und Enttäuschungen nicht aus. Wie ganze Pflanzenbestände bei veränderten Lebensbedingungen verschwinden oder sorgfältig gehütete Seltenheiten dem Unverstand und der Sammelwut, ja selbst der Geldgier gewisser "Naturforscher" zum Opfer fallen, so können auch unvermutet neue Arten an neuen Standorten auftauchen und heimisch werden. Freilich, es kommt Besseres nach, und die rapide Ausbreitung fremder Unkräuter ist ein übler Ersatz für die Ausrottung der schönsten und edelsten Kinder der heimischen Pflanzenwelt.

Unerwartete oder nach langem, vergeblichen Suchen mit Erfolg gekrönte Entdeckungen gehören zu den schönsten Erinnerungen des Pflanzenfreundes. Wie ungeduldig sieht man dem Ergebnis der Bestimmung entgegen, wenn man in einem Fund eine seltenere Art vermutet, wie ist man freudig erregt, wenn man zum ersten Mal eine Pflanze sieht, die man bisher nur aus Beschreibungen oder Abbildungen kannte! Aber es braucht ja gar keine Seltenheit zu sein, mich konnte jeder Bestand von blühenden Pflanzen, wenn er ein in sich geschlossenes Bild bot, jede blühende Wiese, jedes Kornfeld, jede Heide in Entzücken versetzen. Noch sehe ich, als ob es gestern gewesen wäre, den sonnigen Hang, der im Frühling von den blauen Kelchen des Immergrüns übersät war, die stille Bergwiese, auf der unzählige Mengen von Manns-Orchis ihre stolzen roten Blütentrauben emporreckten, die Lichtung in einem Auwald, wo zwischen blühender Akelei mit ihren dunkelvioletten Kronen üppige Stöcke von Knabenkräutern aufschossen, die hohen alten Föhren, unter denen ich im Gras einen ganzen Bestand von betäubend duftenden Platantheren entdeckte.

Wieviele vergebliche Gänge habe ich gemacht, bis ich endlich in einem Föhrenwald das seltene doldenblütige Wintergrün fand! Wie habe ich mir umsonst die Füsse müd gelaufen, um im Gebiet der Badener Höhe, am Herrenwieser See und an ähnlichen Orten die Wunderblume des Siebensterns zu suchen! Sie musste doch da oben vorhanden sein, wenn sie nach Angaben einer Flore "in Wäldern und Mooren des nördlichen Schwarzwald" vorkam! Aber alles Suchen blieb vergebens, und erst 40 Jahre später, als mich Freund Winderlich in den Wald von Rastede mitnahm, habe ich den Traum der Jugend erfüllt gesehen. Da leuchteten die zarten weissen Sterne zu hunderten zwischen Gras und Moos heraus, als ob sie nur auf mich gewartet hätten. Gleich dabei sah ich noch eine mir ganz fremde Pflanze, einen in graziösen Ranken aufstrebenden Lerchensporn, der nur im Nordwesten Deutschlands heimisch ist. Auch einer Tagestour nach dem Hohloh und seinem Loorsee möchte ich gedenken, von der ich mir besondere Funde versprach. Aber Legföhren und Moorbeerensträucher kannte ich schon lange, und das Emeptrum, das da oben in reichen Beständen wächst, die Rauschbeere also, war die einzige neue Pflanzenart, die mir in die Hände fiel. Ich hätte den Weg nach Kaltenbronn fortsetzen und einige Tage da oben verweilen müssen, um eine grössere Zahl von unbekannten Arten zu finden. Aber schliesslich, kam es nur auf neue Pflanzen an? Das Wandern und Bergsteigen allein war schon ein unvergleichlicher Genuss. Wie herrlich waren die Mittagsstunden in der unendlichen Einsamkeit, wo sich der dunkelblaue Julihimmel in dem stillen See spiegelte, wo kein anderer Laut als der Schrei eines Raubvogels und das Schwirren der Libellen zu hören war!

Bis Ende August hatte ich etwa 700 Pflanzen bestimmt und damit eine erste Übersicht über die Zusammensetzung der Badener Flora gewonnen. Das System stand in seinen Grundlagen fest, die natürlichen Pflanzengesellschaften kannte ich so gut, dass ich keine grossen Überraschungen mehr zu erwarten hatte. So tauchte der Wunsch auf, die erworbene Pflanzenkenntnis für weiter ausholende Studien zu verwerten. Die trockenen Diagnosen konnte mir nicht mehr genügen. Ich brauchte umfassendere und lebensvollere Schilderungen. Ich wollte wissen, wie gross die Wohnbezirke der einzelnen Pflanzenarten waren, so sie ihre grösste Verbreitung und die besonderen Bedingungen zu ihrem Gedeihen fanden, mit welchen Einrichtungen sie ausgestattet waren, um sich zu vermehren und im Kampf ums Dasein durchzuhalten.

Wo hätte ich damals über diese Fragen Aufschluss erhalten. Ich besass keine Kenntnis der eigentlichen botanischen Literatur, und was ich mir, durch irgendeinen Zufall gelenkt, von Heidelberg kommen liess, war nicht immer geeignet, meine Fragen zu beantworten. Ich vertiefte mich in Grisebachs berühmtes Werk über die Vegetationsformen der Erde, doch blieb das Gelesene unfruchtbares Buchwissen. Darwins Buch über die Befruchtungsvorgänge bei den Orchideen begeisterte mich, ohne dass ich es zu eigenen Beobachtungen brachte. Blütenbiologische Werke, die sich auf das ganze Pflanzenreich erstreckten, gab noch nicht.

Mit dem Beginn des Volontärjahres kam neues Leben in meine botanischen Liebhabereien. Ich lernte zwei junge Kollegen Haaf und Schmidle kennen, die sich beide mit botanischen Studien befassten und mir an Kenntnissen in mancher Hinsicht überlegen waren. Und ich entdeckte, dass die Bibliothek des Gymnasiums die grosse Flora von Schlechtendal-Hallier besass. Mehr brauchte ich vorerst nicht, um glücklich zu sein.

Haaf war in Baden zu Hause, so dass ihm die Flora von langen Jahren her vertraut war. Seine besondere Stärke waren allerdings nicht die Pflanzen, sondern die Käfer, von denen er eine erstaunliche Sammlung besass. Schmidle kam vom oberen Schwarzwald und kannte nicht nur die dortige Flora, sondern auch einen erheblichen Teil der Alpenpflanzen. Er hatte ein reiches Herbar und teilte mir gern von seinen Schätzen mit. Durch gemeinsame Ausflüge lernte ich manche neue Pflanze, manchen mir noch unbekannten Standort kennen. Aber seine besondere Stärke waren die Süsswasser-Algen. Er beschäftigte sich als Kenner ersten Ranges schon seit Jahren mit der Erforschung dieser wunderbaren mikroskopischen Gebilde und besass, von allen anderen Hilfsmitteln abgesehen, ein wundervolles Mikroskop. Mir ging eine ganz neue Welt auf, als er mich zu sich einlud und mir seine Kulturen und Präparate zeigte. Welch einen Reichtum von Gestalten barg doch diese mikroskopische Schöpfung!

Schmidles Anregungen führten mich zur Beschäftigung mit den Kryptogamen, die ohne Mikroskop studiert werden konnten. Da gab es ja auch noch Pilze und Flechten, Laub- und Lebermoose. Flechten und Moose liessen sich auch im Winter einsammeln, die Pilze hatten im Spätherbst ihre Hauptzeit. Ich kaufte mir die eben erschienene Kryptogamenflora von Wünsche und begann, mich mit Eifer auf das neue Feld zu stürzen. Hier konnte ich auch ohne Mikroskop, mit der Lupe oder mit meinen kurzsichtigen Augen allein noch einiges erreichen. Wieviel wäre von den Kleinfunden zu erzählen, die ich von fast jedem Spaziergang mit nach Hause brachte. Aber wer kennt die verborgene Schönheit jener unscheinbaren Pflanzenwelt, wenn er nicht selbst gesammelt hatte? Die Flechten und die Lebermoose hatten es mir besonders angetan; vieles, was ich damals fand, habe ich nie wieder gesehen. Ein Büchlein von G. Hahn, das die Lebermoose Deutschlands in Wort und Bild beschreibt, hat mir besonders gute Dienste geleistet. Zu meinen schönsten Funden gehörten die Rasen von fruchttragenden Fegatellen, die ich an den Rändern eines von Gebüsch überschatteten Gebirgsbachs entdeckte. Aber wieviel andere reizvolle Gebilde könnte ich nennen, an denen die gebildete wie die ungebildete Menschheit achtlos vorübergeht?

Unschätzbar war für mich die Flora von Schlechtendahl. Sie umfasst mit ihren 30 Bänden bekanntlich ganz Deutschland, Österreich und die Schweiz und geht mit ihren pflanzen-geographischen Angaben noch weit über diese Gebiete hinaus. Das war es gerade, was ich brauchte. Wenn ich kein Geld für Reisen hatte, so wollte ich wenigstens in Gedanken diese Welt durchwandern. Ich ruhte nicht, bis ich mir mit Hilfe eines Systems von Kürzungen die wichtigsten Merkmale und Standorte von mehr als 3000 Pflanzenarten aufgezeichnet hatte. Was ich von den Farbentafeln im Kopf behielt, war genug, um mir eine lebendige Vorstellung von den verschiedenen Florengebieten und Pflanzengesellschaften zu vermitteln.

Im Frühling 1890 kamen auch die grösseren Wanderungen wieder in Gang, bis die schwere Erkrankung meiner Mutter zur Einschränkung zwang. Als Schmidle im Herbst nach Mühlheim und ich nach Heidelberg versetzt wurde, brachen unsere freundschaftlichen Beziehungen zwar nicht ab - Botaniker haben sich immer etwas mitzuteilen - aber sie lebten erst wieder stärker auf, als mein Weggenosse nach Mannheim ans Gymnasium kam.

Ich kann wohl sagen, dass ich mich zu keiner anderen Zeit nachhaltiger und vielseitiger mit botanischen Dingen beschäftigt habe. Was ich mir damals erarbeitete, ist mir bis ins Alter ein unverlierbarer Besitz geblieben. Auch habe ich keine Gelegenheit versäumt, bis in die letzte Jahre. Keinen Unterricht habe ich mit mehr Liebe gegeben, keinen mit mehr Leben erfüllen können als den botanischen. Nichts war mir eine grössere Freude, als mit meinen Klassen, später mit den eigenen Kindern oder auch ganz allein Exkursionen zu unternehmen. Doch was rede ich davon, wo ich mich des immer neuen eigenen Glücks, der unerschöpflichen Freude, des letzten Trosts in allen Abgründen des Lebens zu erinnern hätte, den ich meinem stillen Wald, meinen Lieblingen unter den Blumen verdanke. Was wäre ohne diese nieversagende Zuflucht in gewissen Jahren aus mir geworden! Wenn alles über mir zusammenbrach - diesen letzten Halt konnte mir niemand rauben.

Soviel mich nun auch die blühende Natur beschäftigte und beglückte, so waren andere Interessen in dieser Badener Zeit keineswegs ausgeschaltet. Ein Briefwechsel mit dem Strassburger Mathematiker K. schoss besonders üppig ins Kraut. Er hatte die Beziehung mit grosser Zähigkeit aufrecht erhalten, und mich in seinen Sorgen, beruflichen und seelischen, zum Vertrauten gemacht. Wir stritten uns über alle Fragen der Philosophie und Politik herum, so dass die Briefe oft zu Abhandlungen von zwanzig und mehr Folioseiten auswuchsen. Wie weit es ihm nur um streitbare Unterhaltung zu tun war, ist mir nie ganz klar geworden. Jedenfalls hatte er Neigung zu zugespitzten Behauptungen, denen ich je nach dem gelassene Ruhe oder noch zugespitztere Thesen entgegenstellte. Wenn er sich über die subalternen Anschauungen beklagte, die er in den Beamtenkreisen vorfand, in denen er verkehren musste, so verwies ich ihn auf seine eigene Welt, die ihm niemand streitigmache. Wenn er mit dem Kopf durch die Wand wollte, empfahl ich ihm, um die Wand herumzugehen, da er auch auf diese Weise zum Ziel gelangte. Wie früher, so brauchte er mich auch jetzt wieder als Berater in seinem Liebeskummer. Das Vertrauen zu meinem Taktgefühl war rührend, und ich will hoffen, dass der Ehebund, den er später schloss, für beide Teile ein dauerndes Glück bedeutete.

Auch ein persönlicher Verkehr in Baden bot mir viel Anregung. Er hatte eine lange Vorgeschichte. Meine Eltern hatten nach dem Krieg in Bühl eine Madame Schmidt, die Witwe eines Elsässer Pastors, mit ihrem Töchterlein Martha kennengelernt und der Mutter mit Rat und Tat beigestanden. Was die Frau aus der Heimat vertreib, weiss ich nicht. Lange hielt sie es in der Kleinstadt nicht aus. Ein unruhiger Geist und Pläneschmied, begab sie sich nach Frankreich, England, Italien und kam schliesslich nach Russland, überall bemüht, sich in vornehmen Kreisen durch Sprachunterricht ihr Brot zu verdienen. Meine Eltern wussten nichts von ihrem Wanderleben, als sie mit ihr in Baden zusammenstiessen. Die Tochter war jetzt eine junge Dame von 25 Jahren, die Mutter trotz ihrer weissen Haaren von erstaunlicher Frische und Lebendigkeit.

Es war kein Wunder, dass ich mich von diesem Feuergeist angezogen fühlte und ein gerngesehener Begleiter auf Spaziergängen wurde. Ich hätte im Verkehr mit der alten Dame russisch und italienisch sprechen lernen können, wir kamen aber überein, es erst mit dem Englischen zu versuchen. So konnte man uns im Sommer 1989 in der Lichtentaler Allee in eifriger Unterhaltung über allerhand Lesestoff lustwandeln sehen. Wenn wir vom Englischen genug hatten, ging die Unterhaltung deutsch weiter. Es war ein Genuss, die Frau Pastor von ihren Erlebnissen in Paris und London, von den Kunststätten Italiens, von ihrem Aufenthalt in Odessa erzählen zu hören. Leidenschaftlich für alle politischen Fragen interessiert, erwartete sie vom Sozialismus das Heil der Menschheit und ein Zeitalter des allgemeinen Friedens. Wenn ich ihren Gedankengängen auch nicht immer beipflichten konnte, so rüttelten sie doch das Gewissen wach und machten den Blick für Probleme frei, die mich bisher kaum berührt hatten.

Die Tochter, nicht so stürmisch bewegt wie die Mutter, auch politisch weniger belastet, hatte durch den Verkehr mit einem alten Badener Arzt Interesse für Naturwissenschaften gewonnen. Da sie als Assistentin und Medium immer mehr unter seinen dämonischen Einfluss geriet, begann sie, der Mutter Sorgen zu machen. Es war nicht gerade viel, was ich zur Schlichtung der Konflikte beitragen konnte. Wäre ich zehn Jahre älter gewesen, so hätte sich wahrscheinlich eine einfachere Lösung gefunden. Unsere Beziehungen lösten sich, als Mutter und Tochter ihren Wohnsitz wieder nach Paris verlegten.


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© Julius Ruska 1937