Ein
Frühling ohnegleichen begann, seine Blüten
über das Badener Tal auszustreuen. War es zu
verwundern, dass es mich nach der trostlosen
Gefangenschaft des Winters mit Macht auf die Berge, in
den Wald hinaustrieb? Das Erwachen der Natur, das ich in
Kindertagen sorglos und froh, halb unbewusst im Spielen
erlebt hatte, kam jetzt, wo ich innerlich frei war, wie
ein unerhörtes Wunder über mich.
Solange
das Bücherstudium die beste Zeit verschlang und die
Mathematik mit ihren abstrakten Theorien den Weg zur
Natur versperrte, konnte von planmässigen
botanischen Wanderungen keine Rede sein. Im Botanischen
Garten hatte ich mir keine floristischen Kenntnisse
erwerben können. So gern ich mich dort aufhielt, so
hatten die Besuche und Rundgänge doch nur den
grossen Gruppen des Systems und den Charakterpflanzen
fremder Zonen gegolten. Jetzt verfüge ich über
unbeschränkte Zeit; wenn ich doch einmal anfing,
Pflanzen zu sammeln, so war es nicht weit zu dem
Entschluss, nichts unbeachtet zu lassen, was Blätter
und Blüten trug. Bald genug sah ich, wie wenig ich
eigentlich wusste. Wieviel selbst an den bekanntesten
Pflanzen, an jedem Unkraut Neues zu beobachten war. Es
genügte mir nicht mehr, blühende Pflanzen nach
der Flora zu bestimmen und als Dörrgemüse
aufzuspeichern, ich begann jetzt, was sich entfaltete, in
allen Entwicklungszuständen zu studieren, mit
Skalpell und Nadel zu zerlegen und mit der Lupe zu
betrachten. Vor allem aber gewöhnte ich mich daran,
alle kleinen Einzelheiten, die mir beachtenswert
schienen, zu zeichnen, manches auch mit Farbstiften oder
Wasserfarben auszuführen. So erarbeitete ich mir ein
sicheres Wissen, das auf keine andere Weise zu erwerben
war.
In
den ersten Wochen genügten zwei oder drei Stunden,
um von Äckern und Wiesen, Rainen und
Waldrändern soviel Pflanzen zusammenzuraffen, dass
der Rest des Tages mit Bestimmen und Zeichnen voll
ausgefüllt war. Als ich die Ausflüge weiter
ausdehnen musste, begann ich, die ganzen Nachmittage
dafür zu verwenden. Ich hatte dann sechs bis sieben
Stunden zur Verfügung, wenn ich gleich nach dem
Mittagessen aufbrach. Wie manchen Sommertags hätte
ich zu gedenken, an dem ich von einem Trab durch die
glühende Rheinebene verbrannt und ausgedörrt
mit meinem Pflanzenbündel heimwärts zog! Wie
manchen Rundwegs in den Bergen, von dem ich müd und
hungrig an den geputzten Badegästen in der
Lichtentaler Allee vorüberschlich. Die welken
Pflanzen kamen in einen Wasserkrug, am anderen Morgen
hatten sie sich erholt und konnten zergliedert und
bestimmt werden; am Nachmittag zog ich zu neuen
Entdeckungen aus.
Man
konnte sich kaum ein abwechslungsreicheres Gelände
und mannigfachere Bodenformen denken, als sie die weitere
Umgebung von Baden bot. In dem Dreieck zwischen Scheuern,
Oos und Haueneberstein lagen Lösshügel mit
Äckern und Wiesen, Obstgärten und Weinbergen,
dahinter als erste Erhebung der Hardberg mit
Sandsteinbrüchen und Föhrenwäldern,
südlich der Oos beherrschte der mächtige
Sandsteinrücken des Fremersbergs die Landschaft.
Zwischen dem Battert und dem vorderen Murgtal erstreckte
sich ein breites Gebiet von Rotliegendem, dem sich im
Süden die jüngeren Porphyrergüsse der
Yburg und andere Berge anschlossen. In weitem Umkreis
nach Süden folgte die tiefdurchfurchte, wald- und
wasserreiche Landschaft des Bühlertal-Granits, bis
man, immer höher steigend, die
Buntsandsteinrücken erreichte, die mit ihren
herrlichen Nadelwäldern und ihrem
Latschengestrüpp dem Nordschwarzwald seine besondere
Note geben. Draussen aber, vor den Lösshügeln
und Weinbergen, die den Schwarzwald säumen, dehnte
sich endlos die Rheinebene mit ihren Bächen und
Gräben, ihren Äckern und Wiesen,
Föhrenbeständen und Auwäldern. Von den
geologischen Vorgängen, die dieses Landschaftsbild
geschaffen hatten, besass ich damals nichts weniger als
klare Vorstellungen. Ich hätte nicht sagen
können, woher der Löss kam, oder weshalb man
unter dem Löss bei Balg einen weissen Sand abbaute,
ich wusste nicht, warum es an einem Weg gegen Kuppenheim
Kalksteinbrüche gab und warum der Gipfel des Merkur
aus Sandstein bestand. Ich sah Einzelheiten, aber es
fehlte hier der Blick für die grossen
Zusammenhänge. Meinen botanischen Zwecken
genügte die Unterscheidung von nassen, trockenen,
schattigen und sonnigen, felsigen, lehmigen und sandigen
Standorten, dazu brauchte ich keine
Erdgeschichte.
Ich
konnte gedankenlos durch Berg und Tal schlendern und die
Tage geniessen, wie Gott sie gab. Wenn es herrlich war,
von einem Gipfel in das weite Land hinabzuschauen, oder
stundenlang einem murmelnden Waldbach zu folgen, so war
es nicht weniger schön, am Waldrand in der Sonne zu
sitzen und das Vogelgezwitscher oder das Geschwirr der
Insekten über den blühenden Wiesen zu
belauschen. Das Grösste und das Kleinste, die
fliehenden Wolken, die fernen blauen Berge, das
Heidekraut zu meinen Füssen mit allem, was da kroch
und flog, alles schloss sich zusammen zu einem
unendlichen, unbeschreiblichen Gefühl von Glück
und Lebensfreude.
Wenn
ich anfangs ohne besondere Ziele mitnahm, was ich gerade
auf meinen Wagen fand, so wurden mir doch bald auch
Lücken und Mängel in meinen botanischen
Kenntnissen bewusst, die ich planmässig zu
beseitigen suchte. Ich kannte allerhand Bäume und
Sträucher von Jugend auf, aber ich hatte ein
Gymnasium absolviert und auf der Universität Botanik
getrieben, ohne das Mindeste von ihrem Wachsen und
Blühen dazugelernt zu haben. Ich konnte Roggen,
Weizen und Gerste unterscheiden, aber ich kannte keine
fünf Wiesengräser. Ich hatte allerhand von
Prosenchym und Parenchym, von Turgor und Osmose
gehört und über Befruchtung der Algen und Pilze
gelesen, aber vom nächstliegenden, von dem, was ich
für meine Buben brauchte, hatte ich keine Ahnung.
Das war eben auch keine Wissenschaft. Aber was half mir
alle Wissenschaft, wenn ich mich vor Quartanern
blamierte? Ich nahm mir vor, nicht zu ruhen, bis ich alle
erreichbaren Holzgewächse, Baum und Strauch sicher
kannte und ihre Entwicklung von der Knospe bis zur Frucht
durch die Jahreszeiten verfolgt hatte. In gleichem Sinne
begann ich, mich den artenreichen Familien der
Gräser und Riedgräser, der Doldenpflanzen,
Korbblütler und wie sie alle hiessen, zuzuwenden.
Nur für Weiden, Brombeeren und Rosen mit ihren
vollen Formen und Bastarden konnte ich nicht
genügend Geduld aufbringen. Aus der
Beschäftigung mit solchen Steckenpferden eine
Lebensaufgabe zu machen, wäre mir nie möglich
gewesen.
Die
Schulflora, die ich zum Bestimmen benützte, enthielt
noch keine Standortangaben; ich konnte ihr nur entnehmen,
ob eine Pflanze in Baden häufig, selten oder sehr
selten vorkam. Von einer Gliederung der Fundorte nach
geographischen Bezirken und Bodenarten, wie man sie heute
fast überall findet, oder gar von Ortsangaben, war
noch keine Rede, und so konnte manche Hoffnung auf
seltenere Funde aufkommen, die sich nie erfüllen
wollte. Dass die Standorte die Lebensbedingungen der
Gewächse widerspiegelten und man in einem Kornfeld
andere Pflanzen finden musste, als in einem Buchenwald
oder an einem Wassergraben, war ja
selbstverständlich. Je länger ich die ganze
Umgebung durchwanderte, desto mehr verfeinerte sich die
Kenntnis und Unterscheidung der natürlichen
Florengebiete, desto sicherer konnte ich voraussagen, was
an diesem oder jenem Platz zu finden war. Das ist mir
auch später noch, als die Schulfloren genauere
Ortsangaben brachten, zu gut gekommen.
Zum
Glück schliessen auch die genauesten Angaben
Überraschungen und Enttäuschungen nicht aus.
Wie ganze Pflanzenbestände bei veränderten
Lebensbedingungen verschwinden oder sorgfältig
gehütete Seltenheiten dem Unverstand und der
Sammelwut, ja selbst der Geldgier gewisser
"Naturforscher" zum Opfer fallen, so können auch
unvermutet neue Arten an neuen Standorten auftauchen und
heimisch werden. Freilich, es kommt Besseres nach, und
die rapide Ausbreitung fremder Unkräuter ist ein
übler Ersatz für die Ausrottung der
schönsten und edelsten Kinder der heimischen
Pflanzenwelt.
Unerwartete
oder nach langem, vergeblichen Suchen mit Erfolg
gekrönte Entdeckungen gehören zu den
schönsten Erinnerungen des Pflanzenfreundes. Wie
ungeduldig sieht man dem Ergebnis der Bestimmung
entgegen, wenn man in einem Fund eine seltenere Art
vermutet, wie ist man freudig erregt, wenn man zum ersten
Mal eine Pflanze sieht, die man bisher nur aus
Beschreibungen oder Abbildungen kannte! Aber es braucht
ja gar keine Seltenheit zu sein, mich konnte jeder
Bestand von blühenden Pflanzen, wenn er ein in sich
geschlossenes Bild bot, jede blühende Wiese, jedes
Kornfeld, jede Heide in Entzücken versetzen. Noch
sehe ich, als ob es gestern gewesen wäre, den
sonnigen Hang, der im Frühling von den blauen
Kelchen des Immergrüns übersät war, die
stille Bergwiese, auf der unzählige Mengen von
Manns-Orchis ihre stolzen roten Blütentrauben
emporreckten, die Lichtung in einem Auwald, wo zwischen
blühender Akelei mit ihren dunkelvioletten Kronen
üppige Stöcke von Knabenkräutern
aufschossen, die hohen alten Föhren, unter denen ich
im Gras einen ganzen Bestand von betäubend duftenden
Platantheren entdeckte.
Wieviele
vergebliche Gänge habe ich gemacht, bis ich endlich
in einem Föhrenwald das seltene doldenblütige
Wintergrün fand! Wie habe ich mir umsonst die
Füsse müd gelaufen, um im Gebiet der Badener
Höhe, am Herrenwieser See und an ähnlichen
Orten die Wunderblume des Siebensterns zu suchen! Sie
musste doch da oben vorhanden sein, wenn sie nach Angaben
einer Flore "in Wäldern und Mooren des
nördlichen Schwarzwald" vorkam! Aber alles Suchen
blieb vergebens, und erst 40 Jahre später, als mich
Freund Winderlich in den Wald von Rastede mitnahm, habe
ich den Traum der Jugend erfüllt gesehen. Da
leuchteten die zarten weissen Sterne zu hunderten
zwischen Gras und Moos heraus, als ob sie nur auf mich
gewartet hätten. Gleich dabei sah ich noch eine mir
ganz fremde Pflanze, einen in graziösen Ranken
aufstrebenden Lerchensporn, der nur im Nordwesten
Deutschlands heimisch ist. Auch einer Tagestour nach dem
Hohloh und seinem Loorsee möchte ich gedenken, von
der ich mir besondere Funde versprach. Aber
Legföhren und Moorbeerensträucher kannte ich
schon lange, und das Emeptrum, das da oben in reichen
Beständen wächst, die Rauschbeere also, war die
einzige neue Pflanzenart, die mir in die Hände fiel.
Ich hätte den Weg nach Kaltenbronn fortsetzen und
einige Tage da oben verweilen müssen, um eine
grössere Zahl von unbekannten Arten zu finden. Aber
schliesslich, kam es nur auf neue Pflanzen an? Das
Wandern und Bergsteigen allein war schon ein
unvergleichlicher Genuss. Wie herrlich waren die
Mittagsstunden in der unendlichen Einsamkeit, wo sich der
dunkelblaue Julihimmel in dem stillen See spiegelte, wo
kein anderer Laut als der Schrei eines Raubvogels und das
Schwirren der Libellen zu hören war!
Bis
Ende August hatte ich etwa 700 Pflanzen bestimmt und
damit eine erste Übersicht über die
Zusammensetzung der Badener Flora gewonnen. Das System
stand in seinen Grundlagen fest, die natürlichen
Pflanzengesellschaften kannte ich so gut, dass ich keine
grossen Überraschungen mehr zu erwarten hatte. So
tauchte der Wunsch auf, die erworbene Pflanzenkenntnis
für weiter ausholende Studien zu verwerten. Die
trockenen Diagnosen konnte mir nicht mehr genügen.
Ich brauchte umfassendere und lebensvollere
Schilderungen. Ich wollte wissen, wie gross die
Wohnbezirke der einzelnen Pflanzenarten waren, so sie
ihre grösste Verbreitung und die besonderen
Bedingungen zu ihrem Gedeihen fanden, mit welchen
Einrichtungen sie ausgestattet waren, um sich zu
vermehren und im Kampf ums Dasein
durchzuhalten.
Wo
hätte ich damals über diese Fragen Aufschluss
erhalten. Ich besass keine Kenntnis der eigentlichen
botanischen Literatur, und was ich mir, durch irgendeinen
Zufall gelenkt, von Heidelberg kommen liess, war nicht
immer geeignet, meine Fragen zu beantworten. Ich
vertiefte mich in Grisebachs berühmtes Werk
über die Vegetationsformen der Erde, doch blieb das
Gelesene unfruchtbares Buchwissen. Darwins Buch über
die Befruchtungsvorgänge bei den Orchideen
begeisterte mich, ohne dass ich es zu eigenen
Beobachtungen brachte. Blütenbiologische Werke, die
sich auf das ganze Pflanzenreich erstreckten, gab noch
nicht.
Mit
dem Beginn des Volontärjahres kam neues Leben in
meine botanischen Liebhabereien. Ich lernte zwei junge
Kollegen Haaf und Schmidle kennen, die sich beide mit
botanischen Studien befassten und mir an Kenntnissen in
mancher Hinsicht überlegen waren. Und ich entdeckte,
dass die Bibliothek des Gymnasiums die grosse Flora von
Schlechtendal-Hallier besass. Mehr brauchte ich vorerst
nicht, um glücklich zu sein.
Haaf
war in Baden zu Hause, so dass ihm die Flora von langen
Jahren her vertraut war. Seine besondere Stärke
waren allerdings nicht die Pflanzen, sondern die
Käfer, von denen er eine erstaunliche Sammlung
besass. Schmidle kam vom oberen Schwarzwald und kannte
nicht nur die dortige Flora, sondern auch einen
erheblichen Teil der Alpenpflanzen. Er hatte ein reiches
Herbar und teilte mir gern von seinen Schätzen mit.
Durch gemeinsame Ausflüge lernte ich manche neue
Pflanze, manchen mir noch unbekannten Standort kennen.
Aber seine besondere Stärke waren die
Süsswasser-Algen. Er beschäftigte sich als
Kenner ersten Ranges schon seit Jahren mit der
Erforschung dieser wunderbaren mikroskopischen Gebilde
und besass, von allen anderen Hilfsmitteln abgesehen, ein
wundervolles Mikroskop. Mir ging eine ganz neue Welt auf,
als er mich zu sich einlud und mir seine Kulturen und
Präparate zeigte. Welch einen Reichtum von
Gestalten barg doch diese mikroskopische
Schöpfung!
Schmidles
Anregungen führten mich zur Beschäftigung mit
den Kryptogamen, die ohne Mikroskop studiert werden
konnten. Da gab es ja auch noch Pilze und Flechten, Laub-
und Lebermoose. Flechten und Moose liessen sich auch im
Winter einsammeln, die Pilze hatten im Spätherbst
ihre Hauptzeit. Ich kaufte mir die eben erschienene
Kryptogamenflora von Wünsche und begann, mich mit
Eifer auf das neue Feld zu stürzen. Hier konnte ich
auch ohne Mikroskop, mit der Lupe oder mit meinen
kurzsichtigen Augen allein noch einiges erreichen.
Wieviel wäre von den Kleinfunden zu erzählen,
die ich von fast jedem Spaziergang mit nach Hause
brachte. Aber wer kennt die verborgene Schönheit
jener unscheinbaren Pflanzenwelt, wenn er nicht selbst
gesammelt hatte? Die Flechten und die Lebermoose hatten
es mir besonders angetan; vieles, was ich damals fand,
habe ich nie wieder gesehen. Ein Büchlein von G.
Hahn, das die Lebermoose Deutschlands in Wort und Bild
beschreibt, hat mir besonders gute Dienste geleistet. Zu
meinen schönsten Funden gehörten die Rasen von
fruchttragenden Fegatellen, die ich an den Rändern
eines von Gebüsch überschatteten Gebirgsbachs
entdeckte. Aber wieviel andere reizvolle Gebilde
könnte ich nennen, an denen die gebildete wie die
ungebildete Menschheit achtlos
vorübergeht?
Unschätzbar
war für mich die Flora von Schlechtendahl. Sie
umfasst mit ihren 30 Bänden bekanntlich ganz
Deutschland, Österreich und die Schweiz und geht mit
ihren pflanzen-geographischen Angaben noch weit über
diese Gebiete hinaus. Das war es gerade, was ich
brauchte. Wenn ich kein Geld für Reisen hatte, so
wollte ich wenigstens in Gedanken diese Welt
durchwandern. Ich ruhte nicht, bis ich mir mit Hilfe
eines Systems von Kürzungen die wichtigsten Merkmale
und Standorte von mehr als 3000 Pflanzenarten
aufgezeichnet hatte. Was ich von den Farbentafeln im Kopf
behielt, war genug, um mir eine lebendige Vorstellung von
den verschiedenen Florengebieten und
Pflanzengesellschaften zu vermitteln.
Im
Frühling 1890 kamen auch die grösseren
Wanderungen wieder in Gang, bis die schwere Erkrankung
meiner Mutter zur Einschränkung zwang. Als Schmidle
im Herbst nach Mühlheim und ich nach Heidelberg
versetzt wurde, brachen unsere freundschaftlichen
Beziehungen zwar nicht ab - Botaniker haben sich immer
etwas mitzuteilen - aber sie lebten erst wieder
stärker auf, als mein Weggenosse nach Mannheim ans
Gymnasium kam.
Ich
kann wohl sagen, dass ich mich zu keiner anderen Zeit
nachhaltiger und vielseitiger mit botanischen Dingen
beschäftigt habe. Was ich mir damals erarbeitete,
ist mir bis ins Alter ein unverlierbarer Besitz
geblieben. Auch habe ich keine Gelegenheit versäumt,
bis in die letzte Jahre. Keinen Unterricht habe ich mit
mehr Liebe gegeben, keinen mit mehr Leben erfüllen
können als den botanischen. Nichts war mir eine
grössere Freude, als mit meinen Klassen, später
mit den eigenen Kindern oder auch ganz allein Exkursionen
zu unternehmen. Doch was rede ich davon, wo ich mich des
immer neuen eigenen Glücks, der
unerschöpflichen Freude, des letzten Trosts in allen
Abgründen des Lebens zu erinnern hätte, den ich
meinem stillen Wald, meinen Lieblingen unter den Blumen
verdanke. Was wäre ohne diese nieversagende Zuflucht
in gewissen Jahren aus mir geworden! Wenn alles über
mir zusammenbrach - diesen letzten Halt konnte mir
niemand rauben.
Soviel
mich nun auch die blühende Natur beschäftigte
und beglückte, so waren andere Interessen in dieser
Badener Zeit keineswegs ausgeschaltet. Ein Briefwechsel
mit dem Strassburger Mathematiker K. schoss besonders
üppig ins Kraut. Er hatte die Beziehung mit grosser
Zähigkeit aufrecht erhalten, und mich in seinen
Sorgen, beruflichen und seelischen, zum Vertrauten
gemacht. Wir stritten uns über alle Fragen der
Philosophie und Politik herum, so dass die Briefe oft zu
Abhandlungen von zwanzig und mehr Folioseiten auswuchsen.
Wie weit es ihm nur um streitbare Unterhaltung zu tun
war, ist mir nie ganz klar geworden. Jedenfalls hatte er
Neigung zu zugespitzten Behauptungen, denen ich je nach
dem gelassene Ruhe oder noch zugespitztere Thesen
entgegenstellte. Wenn er sich über die subalternen
Anschauungen beklagte, die er in den Beamtenkreisen
vorfand, in denen er verkehren musste, so verwies ich ihn
auf seine eigene Welt, die ihm niemand streitigmache.
Wenn er mit dem Kopf durch die Wand wollte, empfahl ich
ihm, um die Wand herumzugehen, da er auch auf diese Weise
zum Ziel gelangte. Wie früher, so brauchte er mich
auch jetzt wieder als Berater in seinem Liebeskummer. Das
Vertrauen zu meinem Taktgefühl war rührend, und
ich will hoffen, dass der Ehebund, den er später
schloss, für beide Teile ein dauerndes Glück
bedeutete.
Auch
ein persönlicher Verkehr in Baden bot mir viel
Anregung. Er hatte eine lange Vorgeschichte. Meine Eltern
hatten nach dem Krieg in Bühl eine Madame Schmidt,
die Witwe eines Elsässer Pastors, mit ihrem
Töchterlein Martha kennengelernt und der Mutter mit
Rat und Tat beigestanden. Was die Frau aus der Heimat
vertreib, weiss ich nicht. Lange hielt sie es in der
Kleinstadt nicht aus. Ein unruhiger Geist und
Pläneschmied, begab sie sich nach Frankreich,
England, Italien und kam schliesslich nach Russland,
überall bemüht, sich in vornehmen Kreisen durch
Sprachunterricht ihr Brot zu verdienen. Meine Eltern
wussten nichts von ihrem Wanderleben, als sie mit ihr in
Baden zusammenstiessen. Die Tochter war jetzt eine junge
Dame von 25 Jahren, die Mutter trotz ihrer weissen Haaren
von erstaunlicher Frische und Lebendigkeit.
Es
war kein Wunder, dass ich mich von diesem Feuergeist
angezogen fühlte und ein gerngesehener Begleiter auf
Spaziergängen wurde. Ich hätte im Verkehr mit
der alten Dame russisch und italienisch sprechen lernen
können, wir kamen aber überein, es erst mit dem
Englischen zu versuchen. So konnte man uns im Sommer 1989
in der Lichtentaler Allee in eifriger Unterhaltung
über allerhand Lesestoff lustwandeln sehen. Wenn wir
vom Englischen genug hatten, ging die Unterhaltung
deutsch weiter. Es war ein Genuss, die Frau Pastor von
ihren Erlebnissen in Paris und London, von den
Kunststätten Italiens, von ihrem Aufenthalt in
Odessa erzählen zu hören. Leidenschaftlich
für alle politischen Fragen interessiert, erwartete
sie vom Sozialismus das Heil der Menschheit und ein
Zeitalter des allgemeinen Friedens. Wenn ich ihren
Gedankengängen auch nicht immer beipflichten konnte,
so rüttelten sie doch das Gewissen wach und machten
den Blick für Probleme frei, die mich bisher kaum
berührt hatten.
Die
Tochter, nicht so stürmisch bewegt wie die Mutter,
auch politisch weniger belastet, hatte durch den Verkehr
mit einem alten Badener Arzt Interesse für
Naturwissenschaften gewonnen. Da sie als Assistentin und
Medium immer mehr unter seinen dämonischen Einfluss
geriet, begann sie, der Mutter Sorgen zu machen. Es war
nicht gerade viel, was ich zur Schlichtung der Konflikte
beitragen konnte. Wäre ich zehn Jahre älter
gewesen, so hätte sich wahrscheinlich eine
einfachere Lösung gefunden. Unsere Beziehungen
lösten sich, als Mutter und Tochter ihren Wohnsitz
wieder nach Paris verlegten.