Siebenundzwanzigstes Kapitel

Zwischen Schule und Universität.
Die Zeit der täglich vorgeschriebenen Aufgaben lag hinter mir. Aller alten Pflichten ledig, selbstgewählten Zielen zugewandt, und doch noch von keinen neuen Schwierigkeiten bedrückt, von keiner neuen Bindung beengt, lagen die Wochen vor mir, als ob der Zustand sorglosen Faulenzens kein Ende nehmen könnte.

Wenn ich das beste Zeugnis nach Haus brächte, war mir eine vierzehntägige Rheinfahrt in Aussicht gestellt worden. Vielleicht wäre sie mir auch bei etwas bescheideneren Leistungen bewilligt worden, denn der Vater hatte selbst schon Jahre lang keinen grösseren Wunsch gehabt, als das an Naturschönheiten, geschichtlichen Erinnerungen und Kunstdenkmälern so reiche Rheinland kennen zu lernen. Er hatte auch längst mit Hilfe des Meyer'schen Reiseführers eine Rundreise zusammengestellt, die uns über Heidelberg, Frankfurt und Mainz bis Köln und über Koblenz, Trier, Metz zurück nach Strassburg führen sollte.

Jetzt war endlich die Stunde gekommen, wo er nicht nur seinen eigenen Wunsch erfüllt sah, sondern mir, indem er mich mitnahm, zugleich seine Anerkennung beweisen konnte. Mit Worten war er immer sparsam gewesen.

Die Mutter war im Sommer 1882 mit dem kleinen Otto zum Besuch alter Freunde in Mannheim und Heidelberg gewesen. In Mannheim wohnte Bertha Kohler, einst erster Sopran am Mahlberger Domchor und vielumworbene Schönheit, jetzt eine behäbige Bäckersfrau. In Heidelberg lebte seit vielen Jahren, kinderlos verheiratet, der Hauptlehrer Uhl, der als Unterlehrer um 1850 einer der feurigsten Verehrer der schönen Bertha gewesen war. Meine Mutter hatte den Anstoss zu einem Wiedersehen in Heidelberg gegeben, bei dem das Sprichwort "Alte Liebe rostet nicht" sich wieder einmal bewährte. Diesen nach dem Unterland verschlagenen Bekannten wollten auch wir einen Besuch abstatten.

Am 3. August, in der Frühe eines herrlichen Hochsommertags, traten wir die Reise an. Da Uhls abwesend waren, mussten wir uns allein in Heidelberg zurechtfinden. Das war keine Kunst, da wir uns auf Kirchen, Schloss und Molkenkur beschränkten. Man möge es mir erlassen, von den damaligen Eindrücken zu reden. Ich hoffte wohl, im Sommer 1886 das grosse Jubiläum mitmachen zu dürfen, aber ich habe mir gewiss nicht träumen lassen, dass ich vierzig Jahre in dieser Stadt leben würde, um dann noch nach Berlin verschlagen zu werden.

Gegen Abend fuhren wir noch nach Mannheim hinüber, wo wir von Frau Bertha erwartet wurden. Von diesem ersten Besuch Mannheims weiss ich auch nichts zu sagen. Der erste Eindruck ist von unzähligen späteren Eindrücken verdrängt und überlagert worden. Das Gleiche gilt von anderen Städten, die wir besucht haben. Viel deutlicher blieb die Erinnerung an Plätze, die ich inzwischen nicht wiedergesehen habe. So entsinne ich mich noch gut der Stadt Worms mit dem Dom und dem Lutherdenkmal, auf der Fahrt auch über die Rheinbrücke, wüsste aber nichts von dem ersten Besuch Darmstadts, wenn mein Vater nicht in seinen Erinnerungen dieses Besuchs und insbesondere der Sammlung im Schloss ausführlich gedacht hätte.

Der Stadt Frankfurt und ihren Kunstschätzen und Sammlungen wurden zwei Tage gewidmet. Den ersten Vormittag benützen wir, um eine Übersicht über das Stadtbild zu gewinnen. Am Nachmittag fuhren wir mit der Pferdebahn - damals gab es noch keine elektrischen Strassenbahnen - in den Palmengarten. Wir waren beide begeistert von der Herrlichkeit der Anlagen und der Pflanzenpracht in den Gewächshäusern. Das müsste die Mutter einmal sehen! Wir schrieben begeisterte Berichte nach Hause, und mein Vater fasste den Plan, schon im nächsten Sommer mit ihr die Reise nach Frankfurt zu wiederholen. Die Fahrt unterblieb, weil die Versetzung nach Badenscheuern dazwischen kam, und sie unterblieb in den nächsten Jahren immer wieder aus anderen triftigen Gründen, bis es zu spät war. Nichts hat meinem Vater und mir so weh getan, als dass der Traum der Mutter, die Frankfurter Blumenherrlichkeit einmal schauen zu können, sich nicht mehr verwirklichen liess.

Der zweite Tag in Frankfurt war dem Städel'schen Institut, dem zoologischen Garten und weiterer Umschau in der Stadt gewidmet, am dritten fuhren wir über Mainz, wo wir uns nur ein paar Stunden aufhielten, nach Wiesbaden. Mein Vater entwickelte eine besondere Findigkeit für billige Nachtquartiere, und ich nehme an, dass wir in Wiesbaden nicht geprellt worden sind. Das Kurorchester und die elektrische Beleuchtung mit Bogenlampen scheint ihm besonders imponiert zu haben. Ich erinnere mich besser an die Parkanlagen, das Kurhaus, die evangelische Kirche und die griechische Kapelle auf dem Neroberg. Man wird nicht sagen können, dass das zu einer Schilderung von Wiesbaden ausreicht.

Nach diesen Anstrengungen war das erste Stück Rheinfahrt bis Assmannshausen ein doppelter Genuss. Man hatte uns den Rat gegeben, von dort aus zum Niederwalddenkmal aufzusteigen, weil man es dann, aus dem Walde tretend, plötzlich in seiner Wucht und Grösse vor sich hat. Wir assen in der "Krone" und tranken Assmannshäuser Roten, bevor wir uns auf den Weg machten. Das trug nicht dazu bei, uns in der heissen Augustsonne den Aufstieg zu erleichtern, aber oben im Walde war es herrlich, und von dem Denkmal konnten wir uns fast nicht losreissen. Es war kaum ein Jahr seit seiner Enthüllung vergangen, die Berichte über die begeisterte Teilnahme der Fürsten und des Volks standen uns noch in lebhaftester Erinnerung.

Den Abend brachten wir in Bingen zu, am anderen Morgen fuhren wir den Rhein hinab, an den Städten und Burgen vorüber, die unzählige Male gefeiert und besungen worden sind. Wir hatten Zeit, das Schloss Stolzenfels anzusehen und noch bis Ems und Nassau zu fahren. Es war ein ganz besonderer Wunsch meines Vaters, dem Freiherrn vom Stein seine Verehrung zu bezeugen und sein Denkmal auf Burg Stein bei Nassau zu besuchen. In der Herberge "Wirtshaus", das uns ein Schutzmann empfahl, trafen wir zwei alte Leute als Besitzer, die uns in der herzlichsten Weise aufnahmen, als sie hörten, dass wir aus dem Badischen seien. Der Wirt hatte im Revolutionsjahr gegen Hecker und Struwe gekämpft und war bis nach Freiburg gekommen. Die politische Unterhaltung zwischen dem Wirt und meinem Vater wollte kein Ende nehmen. Wir suchten mit ziemlich schweren Köpfen unsere Betten auf und schliefen tief in den Morgen hinein.

Auf der Rückfahrt, es war der zweite Sonntag, hatten wir für Koblenz wenig Zeit. Wir wollten an diesem Tag noch von Andernach aus das Vulkangebiet von Niedermendig und den Laacher See mit der berühmten Abteikirche besuchen. Dieser Ausflug ist mir heute noch in frischer Erinnerung; zum zweitenmal bin ich nicht mehr an den See gekommen. Von Andernach fuhren wir am nächsten Morgen bis Bonn und nach kurzem Aufenthalt mit der Bahn nach Köln, wo wir um 5 Uhr nachmittags eintrafen.

Von allem was ich bisher gesehen hatte, war das heilige Köln mit seinem Dom und seinen unzähligen Kirchen das grösste Erlebnis. Ich will nicht sagen, dass der Dom mein geliebtes Strassburger Münster in den Schatten stellte - das waren zwei ganz unvergleichbare Grössen - aber hier trat mit den endlos aufstrebenden Türmen und Türmchen die Gothik in ihrer höchsten, von aller Erdenschwere befreiten Vollendung entgegen. Wir kletterten bis zur Pyramide des Turms hinauf, in dem die Kaiserglocke hing, bewunderten das Ganze Innere des Doms, und sahen wohl auch einen Teil des Domschatzes. Ich kann mich jedoch nicht erinnern, von den Reliquien der heiligen drei Könige eine besondere Gnadenwirkung an mir verspürt zu haben. Von den vielen anderen Kirchen, die wir besichtigten, haben St. Gereon und die Apostelkirche begreiflicherweise den tiefsten Eindruck hinterlassen. Der zweite Kölner Tag war mehr weltlichen Dingen gewidmet, vor allem dem Wallraf-Richartz-Museum, von dem wir uns kaum trennen konnten.

Am dritten Tag traten wir den Rückweg an. Die Hitze des August, die Unruhe der Reise, das endlose Wandern in den Strassen, die Anstrengung des Schauens hatte meinen Vater so überreizt, dass er auch kaum mehr schlafen konnte. Es war höchste Zeit, dass wir umkehrten. Wir erreichten mit einem Schnellzug über Koblenz spät abends noch Trier und wohnten im Luxemburger Hof. Die Rechnung, die uns am anderen Morgen dargereicht wurde, bewies, dass wir diesmal eine sehr vornehme Herberge gewählt hatten. Wir erledigten an Kirchen und römischen Denkmälern, was bei der Hitze an einem Vormittag möglich war - die einzige Porta Nigra hätte schon die Reise gelohnt. Ein Sammelbild von Trierer Baudenkmälern, das wir uns einrahmen liessen, hielt die Erinnerung an den kurzen Besuch lebendig. Am anderen Morgen fuhren wir zunächst bis Metz und freuten uns über die deutschen Soldaten, die hier aus allen Gauen vereinigt waren. Nie würde diese Festung wieder in die Hände der Franzosen fallen!

Ein fürchterliches Gewitter beschränkte unsere Bewegungsfreiheit, doch standen wir noch lange auf der Esplanade und sahen in das Moseltal hinab. Zur Besichtigung der Schlachtfelder um Metz, die weitere Tage erfordert hätte, hatten wir nicht mehr die Spannkraft. Wir bestiegen um 4 Uhr einen Zug, der uns gegen 11 Uhr nachts nach Strassburg brachte; hier beim Onkel Heinrich konnten wir uns wieder auf heimischem Boden fühlen. Am anderen Vormittag waren wir zu Hause. So sehr mein Vater von den Eindrücken der Reise erfüllt war, er dankte doch Gott, dass er wieder seinen Schatz, seine gewohnte Umgebung und seine Ruhe hatte. Von mir aus hätte die Reise noch lange weitergehen können. Köln sah ich erst nach 20 Jahren wieder, Trier und Metz habe ich nicht wieder betreten. Wir hatten für die ganze Unternehmung rund RM. 200,-- verbraucht.

Zu Hause erwartete uns eine grosse Überraschung. Die Bienen hatten während unserer Abwesenheit so fleissig eingetragen, dass der Honig vor der erwarteten gewöhnlichen Zeit geschleudert werden musste. Die Mutter hatte unseren Bienenvater Knab aus Breithurst kommen lassen müssen, um das Geschäft zu erledigen, und zeigte uns freudestrahlend die bis an den Rand gefüllten Honigeimer. Es war die reichste Ernte, die uns jemals zugefallen war.

Während der Vater sofort wieder Dienst tun musste, konnte ich jetzt dem Nichtstun fröhnen oder mir im Garten, besonders an den Obstbäumen, Beschäftigung suchen. Ich konnte lesen und Klavier spielen, wenn es regnete, oder Ausflüge machen, wenn das Wetter dazu einlud. Ein längerer Besuch meines Freundes Emil gab mir besonders Anlass zu solchen Wanderungen. Ich musste ihm doch zeigen, wie schön die Umgebung von Bühl war. Ich hatte immer noch die stille Hoffnung, ihm seinen Plan, zur Post zu gehen, ausreden zu können. Er hatte einen Onkel, der in Kehl Postdirektor war, hätte also leicht bei ihm wohnen und in Strassburg studieren können. Aber der Onkel wollte den mittellosen Neffen nur unterstützen, wenn er die Postlaufbahn einschlüge, und dabei blieb es. Vorher hatte Emil noch das Einjährige in Rastatt abzudienen. Er war stolz darauf und es war gut für ihn, da ihn der Dienst auf andere Gedanken brachte.

Auch Otto Schenck, der Sohn des Bezirksarztes, seit etwa einen Jahr der Dritte in unserem Bunde, besuchte mich in Bühl. Er war ein dunkellockiger Jüngling mit schwärmerischen Augen und wir waren uns näher gekommen, weil auch er an einer glücklich-unglücklichen Liebe litt, und bei uns Verständnis und Trost zu finden hoffte. Agnes hiess das süsse Wesen, es wohnte im Schloss, da der Vater ein höherer Offizier war. Seine Versetzung nach Neisse zerstörte das junge Glück, und da man von Briefschreiben allein nicht satt wird, kam es, wie es kommen musste. Doch das hatte jetzt noch gute Weile. Während der Ferien war Schenck mit seinem Schwarm so viel zusammen, als es nur irgend möglich war, nicht ohne freundliche Beihilfe einer Frau Leutnant, die er vorher zu allen Teufeln gewünscht hatte. Mir schrieb er fleissig Briefe, die mich über alles unterrichteten, was in Rastatt passierte. Das Ereignis, das mich am nächsten anging, war die Versetzung von Papa Z., der als Oberzollinspektor Ende Oktober nach Freiburg kam.

Die fünf Jahre, die mich in Rastatt zum hoffnungsvollen Jüngling werden liessen, waren auch an meinen Bühler Zeitgenossen und Mitschülern nicht spurlos vorübergegangen. Sie waren, meine Schulkameraden, jetzt durchschnittlich zwanzig Jahre alt, hatten irgendwo in der Stadt oder ausserhalb ein Handwerk oder Geschäft gelernt und waren völlig aus meinem Gesichtskreis entschwunden. Mit den beiden Studenten, die damals ausser mir der Vaterstadt Ruhm zu bringen versprachen, war kein engerer Verkehr möglich, dazu waren ihre Verhältnisse und Studienziele von den meinen zu verschieden. Der eine, der am Nordende der Stadt im Amtshaus wohnte, war Jurist und todlangweilig, der andere, der zweite Sohn des Bürgermeisters, studierte Medizin und war grosszügigere Verhältnisse gewohnt, als mein Vater sie sich leisten konnte. So blieb ich im Süden so isoliert, wie die anderen im Zentrum und im Norden, wenn nicht Max Krieg einen Teil seiner Ferien bei den Verwandten zubrachte.

Der jüngere Nachwuchs, der von Pfarrverweser Hund auf die mittleren Gymnasialklassen oder auf die Länder'sche Anstalt in Sasbach vorbereitet wurde, interessierte mich wenig, nicht einmal für Privatstunden, die mir ein Taschengeld hätten einbringen können. Gegen solche Tätigkeit hatte ich damals schon, wie zu allen Zeiten, eine ausgesprochene Abneigung. Auch mein Bruder Albert gehörte zu den Kandidaten für die Länder'sche Anstalt. Wer erfahren will, wie es in den achtziger Jahren dort zuging, kann das in den Erinnerungsblättern nachlesen, die der Prälat Schofer 1926 veröffentlicht hat.1) Albert hat es nicht zum Prälaten gebracht, denn er brannte schon als Untertertianer durch. Lieber wolle er den ganzen Tag am Schraubstock stehen, als eine Stunde Griechisch lernen. Der Wunsch wurde ihm erfüllt, er kam nach Freiburg zu Meister Nosch in die Lehre, um chirurgischer Instrumentenmacher zu werden, hat aber auch da nicht viel gute Tage gesehen. Während meiner Rastatter Jahre hatte ich in den Ferien jedesmal beim Pfarrverweser Besuch machen müssen. Das war bisweilen peinlich, da er meist besser über meine Verhältnisse unterrichtet war als die Eltern, die ich mit einem guten Zeugnis zufriedenstellen konnte. So gönnte ich es ihm und mir, als er im Spätjahr 1883 als Stadtpfarrer nach Elzach versetzt wurde. Ich brauchte nun nicht näher zu begründen, warum ich nicht Theologe werden wollte. Wer will es mir verargen, dass ich mitten in einer gärenden Entwicklung kein Dreinreden und keine wohlwollende Ermahnungen ertragen konnte? Dankbarkeit von der Jugend zu erwarten, die sich selbst durchsetzen muss, also mehr die Widerstände als die Förderung empfindet, ist ein törichtes Verlangen. Sie kommt von selbst, wenn der Mensch dazu reif ist. Aber oft genug kommt sie erst an Gräbern.

In den Jahren 1882 und 1883 hatte man begonnen, die alte Kirche in Bühl zu einem Rathaus mit Fruchthalle umzubauen. Nur der Turm, das alte Wahrzeichen der Stadt, sollte erhalten bleiben; das Schiff wurde in einen Renaissancebau verwandelt, an die Stelle des Chors trat eine prunkhafte Torfassade. Ich habe mich für das Fortschreiten des Baues immer lebhaft interessiert, und als der Turm für Besucher freigegeben war, ziemlich jeden unserer Gäste hinaufgeschleppt, um ihm die Aussicht auf Stadt und Berge vorzuführen. Jetzt bereitete man zur Einweihung des Rathauses eine Ausstellung vor, die der rührige Handels- und Gewerbeverein in die Hand nahm. Es sollte ein Überblick über die Leistungen der in der Stadt vertretenen Gewerbe und grösseren Betriebe gegeben werden, und man erwartete neben vielen Gästen aus Nah und Fern mit Bestimmtheit auch den Besuch des Grossherzogs. Ganz Bühl war auf den Beinen, die Fahnen flatterten, die Glocken läuteten und die Böller knallten, als der Landesvater mit Gefolge seinen Einzug hielt. Es war ein Grossbetrieb in der Stadt, wie ich ihn noch nie erlebt hatte, und man muss sagen, dass die Tüchtigkeit des Handwerks und der Unternehmungsgeist einzelner Firmen sich sehen lassen konnten. Mein Vater hatte als Rechner des Vereins viel verantwortungsvolle Arbeit zu leisten, die ihm bei seinem Weggang von Bühl durch die Ehrenmitgliedschaft gedankt wurde. Mir sind die Abendkonzerte und Tanzabende unter den Bogenlampen auf dem Kirchenplatz besonders gut in Erinnerung geblieben, wenn ich auch nicht sagen kann, dass die Bühler Jungfrauen mein Herz in neue Flammen gesetzt hätten.

Anfangs der Achtziger Jahre war Bühl auch der Ausgangspunkt einer Lehrerbewegung geworden, die den unerträglichen Besoldungs- und Versorgungsverhältnissen durch Gründung von Versicherungskassen und eigene Geschäftsunternehmungen zu steuern suchte. So entstand auf Anregung der Lehrer Dühmig, Ruska und Jutz und des Obmanns Weinig in Bühlertal eine Feuerversicherung, die in kurzer Zeit fast die ganze Lehrerschaft Badens zur Selbsthilfe vereinigte, und bald darauf die Aktiendruckerei Konkordia, die ihre Überschüsse an den Pestalozziverein und das Witwen- und Waisenstift abführte. Wer wissen will, mit welchem Wohlwollen die Regierung, die politischen Parteien und die Geschäftsleute diese durch die Not erzwungenen Bestrebungen begleiteten, mag die Lehrerzeitungen jener Jahre nachlesen. Dühmig trat nach einigen Jahren aus dem Schuldienst aus und liess sich zum Direktor der Druckerei ernennen; der Betrieb wurde bald erweitert und blüht heute noch. Da ich die Herren alle kannte und mein Vater mit seinem praktischen Blick zu den tatkräftigsten Förderern der Unternehmungen zählte, verfolgte auch ich diese Dinge mit grossem Interesse.

Und doch, was ging das alles mich innerlich an? Was kümmerten mich letzten Endes die grossen und kleinen Ereignisse des Tages? Was hatten sie mit meinen Träumen und Sehnsüchten, meinen Erwartungen und Zukunftsplänen zu schaffen?

Ich suchte mir nach dem Strassburger Vorlesungsverzeichnis einen Studienplan zurechtzulegen. Aber wer hätte mir sagen können, welche mathematischen Vorlesungen ich zuerst hören sollte? Nur eines stand mir schliesslich fest, dass ich bei Ernst Laas Psychologie und bei Windelband Geschichte der Philosophie von Kant bis auf die Gegenwart belegen würde. Das eine wie das andere brauchte ich, um über mich selbst und mein Verhältnis zu Gott und Welt ins Klare zu kommen, das Studium der Naturwissenschaften würde sich nach und nach ganz von selber anschliessen. So begann ich denn jetzt, mich in die Kritik der Urteilskraft zu vertiefen und den verwegenen Entschluss mit aller Hartnäckigkeit durchzuführen. Es kostete viel Mühe, bis ich mich in den ungewohnten Perioden und Gedankengängen eingermassen zurechtgefunden hatte, doch der Gewinn blieb nicht aus, nicht nur weil ich mich durch eine Fülle neuer Gedanken bereichert fand, sondern auch an einem konkreten Beispiel die Erfahrung machte, dass ich philosophischen Gedankengängen folgen konnte. Dass mich die Grundlegung der Aesthetik, mit der wir ja in Prima genügend befasst worden waren, weniger fesselte als Kants Ausführungen über die Theologische Urteilskraft, wird man begreiflich finden: dafür war ich eben ein künftiger Naturforscher oder doch ein junger Mensch, den die Probleme der Naturwissenschaften und insbesondere der organischen Schöpfung unendlich viel tiefer bewegten als alle Ästhetik.


1) Vom junngen Waldarbeiter auf der Badenerhöh zum Abiturienten in Sasbach. Mit 12 Bildern. Karlsruhe 1926.


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© Julius Ruska 1937