Die
Zeit der täglich vorgeschriebenen Aufgaben lag
hinter mir. Aller alten Pflichten ledig,
selbstgewählten Zielen zugewandt, und doch noch von
keinen neuen Schwierigkeiten bedrückt, von keiner
neuen Bindung beengt, lagen die Wochen vor mir, als ob
der Zustand sorglosen Faulenzens kein Ende nehmen
könnte.
Wenn
ich das beste Zeugnis nach Haus brächte, war mir
eine vierzehntägige Rheinfahrt in Aussicht gestellt
worden. Vielleicht wäre sie mir auch bei etwas
bescheideneren Leistungen bewilligt worden, denn der
Vater hatte selbst schon Jahre lang keinen grösseren
Wunsch gehabt, als das an Naturschönheiten,
geschichtlichen Erinnerungen und Kunstdenkmälern so
reiche Rheinland kennen zu lernen. Er hatte auch
längst mit Hilfe des Meyer'schen Reiseführers
eine Rundreise zusammengestellt, die uns über
Heidelberg, Frankfurt und Mainz bis Köln und
über Koblenz, Trier, Metz zurück nach
Strassburg führen sollte.
Jetzt
war endlich die Stunde gekommen, wo er nicht nur seinen
eigenen Wunsch erfüllt sah, sondern mir, indem er
mich mitnahm, zugleich seine Anerkennung beweisen konnte.
Mit Worten war er immer sparsam gewesen.
Die
Mutter war im Sommer 1882 mit dem kleinen Otto zum Besuch
alter Freunde in Mannheim und Heidelberg gewesen. In
Mannheim wohnte Bertha Kohler, einst erster Sopran am
Mahlberger Domchor und vielumworbene Schönheit,
jetzt eine behäbige Bäckersfrau. In Heidelberg
lebte seit vielen Jahren, kinderlos verheiratet, der
Hauptlehrer Uhl, der als Unterlehrer um 1850 einer der
feurigsten Verehrer der schönen Bertha gewesen war.
Meine Mutter hatte den Anstoss zu einem Wiedersehen in
Heidelberg gegeben, bei dem das Sprichwort "Alte Liebe
rostet nicht" sich wieder einmal bewährte. Diesen
nach dem Unterland verschlagenen Bekannten wollten auch
wir einen Besuch abstatten.
Am
3. August, in der Frühe eines herrlichen
Hochsommertags, traten wir die Reise an. Da Uhls abwesend
waren, mussten wir uns allein in Heidelberg
zurechtfinden. Das war keine Kunst, da wir uns auf
Kirchen, Schloss und Molkenkur beschränkten. Man
möge es mir erlassen, von den damaligen
Eindrücken zu reden. Ich hoffte wohl, im Sommer 1886
das grosse Jubiläum mitmachen zu dürfen, aber
ich habe mir gewiss nicht träumen lassen, dass ich
vierzig Jahre in dieser Stadt leben würde, um dann
noch nach Berlin verschlagen zu werden.
Gegen
Abend fuhren wir noch nach Mannheim hinüber, wo wir
von Frau Bertha erwartet wurden. Von diesem ersten Besuch
Mannheims weiss ich auch nichts zu sagen. Der erste
Eindruck ist von unzähligen späteren
Eindrücken verdrängt und überlagert
worden. Das Gleiche gilt von anderen Städten, die
wir besucht haben. Viel deutlicher blieb die Erinnerung
an Plätze, die ich inzwischen nicht wiedergesehen
habe. So entsinne ich mich noch gut der Stadt Worms mit
dem Dom und dem Lutherdenkmal, auf der Fahrt auch
über die Rheinbrücke, wüsste aber nichts
von dem ersten Besuch Darmstadts, wenn mein Vater nicht
in seinen Erinnerungen dieses Besuchs und insbesondere
der Sammlung im Schloss ausführlich gedacht
hätte.
Der
Stadt Frankfurt und ihren Kunstschätzen und
Sammlungen wurden zwei Tage gewidmet. Den ersten
Vormittag benützen wir, um eine Übersicht
über das Stadtbild zu gewinnen. Am Nachmittag fuhren
wir mit der Pferdebahn - damals gab es noch keine
elektrischen Strassenbahnen - in den Palmengarten. Wir
waren beide begeistert von der Herrlichkeit der Anlagen
und der Pflanzenpracht in den Gewächshäusern.
Das müsste die Mutter einmal sehen! Wir schrieben
begeisterte Berichte nach Hause, und mein Vater fasste
den Plan, schon im nächsten Sommer mit ihr die Reise
nach Frankfurt zu wiederholen. Die Fahrt unterblieb, weil
die Versetzung nach Badenscheuern dazwischen kam, und sie
unterblieb in den nächsten Jahren immer wieder aus
anderen triftigen Gründen, bis es zu spät war.
Nichts hat meinem Vater und mir so weh getan, als dass
der Traum der Mutter, die Frankfurter Blumenherrlichkeit
einmal schauen zu können, sich nicht mehr
verwirklichen liess.
Der
zweite Tag in Frankfurt war dem Städel'schen
Institut, dem zoologischen Garten und weiterer Umschau in
der Stadt gewidmet, am dritten fuhren wir über
Mainz, wo wir uns nur ein paar Stunden aufhielten, nach
Wiesbaden. Mein Vater entwickelte eine besondere
Findigkeit für billige Nachtquartiere, und ich nehme
an, dass wir in Wiesbaden nicht geprellt worden sind. Das
Kurorchester und die elektrische Beleuchtung mit
Bogenlampen scheint ihm besonders imponiert zu haben. Ich
erinnere mich besser an die Parkanlagen, das Kurhaus, die
evangelische Kirche und die griechische Kapelle auf dem
Neroberg. Man wird nicht sagen können, dass das zu
einer Schilderung von Wiesbaden ausreicht.
Nach
diesen Anstrengungen war das erste Stück Rheinfahrt
bis Assmannshausen ein doppelter Genuss. Man hatte uns
den Rat gegeben, von dort aus zum Niederwalddenkmal
aufzusteigen, weil man es dann, aus dem Walde tretend,
plötzlich in seiner Wucht und Grösse vor sich
hat. Wir assen in der "Krone" und tranken
Assmannshäuser Roten, bevor wir uns auf den Weg
machten. Das trug nicht dazu bei, uns in der heissen
Augustsonne den Aufstieg zu erleichtern, aber oben im
Walde war es herrlich, und von dem Denkmal konnten wir
uns fast nicht losreissen. Es war kaum ein Jahr seit
seiner Enthüllung vergangen, die Berichte über
die begeisterte Teilnahme der Fürsten und des Volks
standen uns noch in lebhaftester Erinnerung.
Den
Abend brachten wir in Bingen zu, am anderen Morgen fuhren
wir den Rhein hinab, an den Städten und Burgen
vorüber, die unzählige Male gefeiert und
besungen worden sind. Wir hatten Zeit, das Schloss
Stolzenfels anzusehen und noch bis Ems und Nassau zu
fahren. Es war ein ganz besonderer Wunsch meines Vaters,
dem Freiherrn vom Stein seine Verehrung zu bezeugen und
sein Denkmal auf Burg Stein bei Nassau zu besuchen. In
der Herberge "Wirtshaus", das uns ein Schutzmann empfahl,
trafen wir zwei alte Leute als Besitzer, die uns in der
herzlichsten Weise aufnahmen, als sie hörten, dass
wir aus dem Badischen seien. Der Wirt hatte im
Revolutionsjahr gegen Hecker und Struwe gekämpft und
war bis nach Freiburg gekommen. Die politische
Unterhaltung zwischen dem Wirt und meinem Vater wollte
kein Ende nehmen. Wir suchten mit ziemlich schweren
Köpfen unsere Betten auf und schliefen tief in den
Morgen hinein.
Auf
der Rückfahrt, es war der zweite Sonntag, hatten wir
für Koblenz wenig Zeit. Wir wollten an diesem Tag
noch von Andernach aus das Vulkangebiet von Niedermendig
und den Laacher See mit der berühmten Abteikirche
besuchen. Dieser Ausflug ist mir heute noch in frischer
Erinnerung; zum zweitenmal bin ich nicht mehr an den See
gekommen. Von Andernach fuhren wir am nächsten
Morgen bis Bonn und nach kurzem Aufenthalt mit der Bahn
nach Köln, wo wir um 5 Uhr nachmittags
eintrafen.
Von
allem was ich bisher gesehen hatte, war das heilige
Köln mit seinem Dom
und seinen unzähligen Kirchen das grösste
Erlebnis. Ich will nicht sagen, dass der Dom mein
geliebtes Strassburger Münster in den Schatten
stellte - das waren zwei ganz unvergleichbare
Grössen - aber hier trat mit den endlos
aufstrebenden Türmen und Türmchen die Gothik in
ihrer höchsten, von aller Erdenschwere befreiten
Vollendung entgegen. Wir kletterten bis zur Pyramide des
Turms hinauf, in dem die Kaiserglocke hing, bewunderten
das Ganze Innere des Doms, und sahen wohl auch einen Teil
des Domschatzes. Ich kann mich jedoch nicht erinnern, von
den Reliquien der heiligen drei Könige eine
besondere Gnadenwirkung an mir verspürt zu haben.
Von den vielen anderen Kirchen, die wir besichtigten,
haben St.
Gereon
und die Apostelkirche
begreiflicherweise den tiefsten Eindruck hinterlassen.
Der zweite Kölner Tag war mehr weltlichen Dingen
gewidmet, vor allem dem Wallraf-Richartz-Museum,
von dem wir uns kaum trennen konnten.
Am
dritten Tag traten wir den Rückweg an. Die Hitze des
August, die Unruhe der Reise, das endlose Wandern in den
Strassen, die Anstrengung des Schauens hatte meinen Vater
so überreizt, dass er auch kaum mehr schlafen
konnte. Es war höchste Zeit, dass wir umkehrten. Wir
erreichten mit einem Schnellzug über Koblenz
spät abends noch Trier und wohnten im Luxemburger
Hof. Die Rechnung, die uns am anderen Morgen dargereicht
wurde, bewies, dass wir diesmal eine sehr vornehme
Herberge gewählt hatten. Wir erledigten an Kirchen
und römischen Denkmälern, was bei der Hitze an
einem Vormittag möglich war - die einzige Porta
Nigra hätte schon die Reise gelohnt. Ein Sammelbild
von Trierer Baudenkmälern, das wir uns einrahmen
liessen, hielt die Erinnerung an den kurzen Besuch
lebendig. Am anderen Morgen fuhren wir zunächst bis
Metz und freuten uns über die deutschen Soldaten,
die hier aus allen Gauen vereinigt waren. Nie würde
diese Festung wieder in die Hände der Franzosen
fallen!
Ein
fürchterliches Gewitter beschränkte unsere
Bewegungsfreiheit, doch standen wir noch lange auf der
Esplanade und sahen in das Moseltal hinab. Zur
Besichtigung der Schlachtfelder um Metz, die weitere Tage
erfordert hätte, hatten wir nicht mehr die
Spannkraft. Wir bestiegen um 4 Uhr einen Zug, der uns
gegen 11 Uhr nachts nach Strassburg brachte; hier beim
Onkel Heinrich konnten wir uns wieder auf heimischem
Boden fühlen. Am anderen Vormittag waren wir zu
Hause. So sehr mein Vater von den Eindrücken der
Reise erfüllt war, er dankte doch Gott, dass er
wieder seinen Schatz, seine gewohnte Umgebung und seine
Ruhe hatte. Von mir aus hätte die Reise noch lange
weitergehen können. Köln sah ich erst nach 20
Jahren wieder, Trier und Metz habe ich nicht wieder
betreten. Wir hatten für die ganze Unternehmung rund
RM. 200,-- verbraucht.
Zu
Hause erwartete uns eine grosse Überraschung. Die
Bienen hatten während unserer Abwesenheit so
fleissig eingetragen, dass der Honig vor der erwarteten
gewöhnlichen Zeit geschleudert werden musste. Die
Mutter hatte unseren Bienenvater Knab aus Breithurst
kommen lassen müssen, um das Geschäft zu
erledigen, und zeigte uns freudestrahlend die bis an den
Rand gefüllten Honigeimer. Es war die reichste
Ernte, die uns jemals zugefallen war.
Während
der Vater sofort wieder Dienst tun musste, konnte ich
jetzt dem Nichtstun fröhnen oder mir im Garten,
besonders an den Obstbäumen, Beschäftigung
suchen. Ich konnte lesen und Klavier spielen, wenn es
regnete, oder Ausflüge machen, wenn das Wetter dazu
einlud. Ein längerer Besuch meines Freundes Emil gab
mir besonders Anlass zu solchen Wanderungen. Ich musste
ihm doch zeigen, wie schön die Umgebung von
Bühl war. Ich hatte immer noch die stille Hoffnung,
ihm seinen Plan, zur Post zu gehen, ausreden zu
können. Er hatte einen Onkel, der in Kehl
Postdirektor war, hätte also leicht bei ihm wohnen
und in Strassburg studieren können. Aber der Onkel
wollte den mittellosen Neffen nur unterstützen, wenn
er die Postlaufbahn einschlüge, und dabei blieb es.
Vorher hatte Emil noch das Einjährige in Rastatt
abzudienen. Er war stolz darauf und es war gut für
ihn, da ihn der Dienst auf andere Gedanken
brachte.
Auch
Otto Schenck, der Sohn des Bezirksarztes, seit etwa einen
Jahr der Dritte in unserem Bunde, besuchte mich in
Bühl. Er war ein dunkellockiger Jüngling mit
schwärmerischen Augen und wir waren uns näher
gekommen, weil auch er an einer
glücklich-unglücklichen Liebe litt, und bei uns
Verständnis und Trost zu finden hoffte. Agnes hiess
das süsse Wesen, es wohnte im Schloss, da der Vater
ein höherer Offizier war. Seine Versetzung nach
Neisse zerstörte das junge Glück, und da man
von Briefschreiben allein nicht satt wird, kam es, wie es
kommen musste. Doch das hatte jetzt noch gute Weile.
Während der Ferien war Schenck mit seinem Schwarm so
viel zusammen, als es nur irgend möglich war, nicht
ohne freundliche Beihilfe einer Frau Leutnant, die er
vorher zu allen Teufeln gewünscht hatte. Mir schrieb
er fleissig Briefe, die mich über alles
unterrichteten, was in Rastatt passierte. Das Ereignis,
das mich am nächsten anging, war die Versetzung von
Papa Z., der als Oberzollinspektor Ende Oktober nach
Freiburg kam.
Die
fünf Jahre, die mich in Rastatt zum hoffnungsvollen
Jüngling werden liessen, waren auch an meinen
Bühler Zeitgenossen und Mitschülern nicht
spurlos vorübergegangen. Sie waren, meine
Schulkameraden, jetzt durchschnittlich zwanzig Jahre alt,
hatten irgendwo in der Stadt oder ausserhalb ein Handwerk
oder Geschäft gelernt und waren völlig aus
meinem Gesichtskreis entschwunden. Mit den beiden
Studenten, die damals ausser mir der Vaterstadt Ruhm zu
bringen versprachen, war kein engerer Verkehr
möglich, dazu waren ihre Verhältnisse und
Studienziele von den meinen zu verschieden. Der eine, der
am Nordende der Stadt im Amtshaus wohnte, war Jurist und
todlangweilig, der andere, der zweite Sohn des
Bürgermeisters, studierte Medizin und war
grosszügigere Verhältnisse gewohnt, als mein
Vater sie sich leisten konnte. So blieb ich im Süden
so isoliert, wie die anderen im Zentrum und im Norden,
wenn nicht Max Krieg einen Teil seiner Ferien bei den
Verwandten zubrachte.
Der
jüngere Nachwuchs, der von Pfarrverweser Hund auf
die mittleren Gymnasialklassen oder auf die
Länder'sche Anstalt in Sasbach vorbereitet wurde,
interessierte mich wenig, nicht einmal für
Privatstunden, die mir ein Taschengeld hätten
einbringen können. Gegen solche Tätigkeit hatte
ich damals schon, wie zu allen Zeiten, eine
ausgesprochene Abneigung. Auch mein Bruder Albert
gehörte zu den Kandidaten für die
Länder'sche Anstalt. Wer erfahren will, wie es in
den achtziger Jahren dort zuging, kann das in den
Erinnerungsblättern nachlesen, die der Prälat
Schofer 1926 veröffentlicht hat.1)
Albert hat es nicht zum Prälaten gebracht, denn er
brannte schon als Untertertianer durch. Lieber wolle er
den ganzen Tag am Schraubstock stehen, als eine Stunde
Griechisch lernen. Der Wunsch wurde ihm erfüllt, er
kam nach Freiburg zu Meister Nosch in die Lehre, um
chirurgischer Instrumentenmacher zu werden, hat aber auch
da nicht viel gute Tage gesehen. Während meiner
Rastatter Jahre hatte ich in den Ferien jedesmal beim
Pfarrverweser Besuch machen müssen. Das war
bisweilen peinlich, da er meist besser über meine
Verhältnisse unterrichtet war als die Eltern, die
ich mit einem guten Zeugnis zufriedenstellen konnte. So
gönnte ich es ihm und mir, als er im Spätjahr
1883 als Stadtpfarrer nach Elzach versetzt wurde. Ich
brauchte nun nicht näher zu begründen, warum
ich nicht Theologe werden wollte. Wer will es mir
verargen, dass ich mitten in einer gärenden
Entwicklung kein Dreinreden und keine wohlwollende
Ermahnungen ertragen konnte? Dankbarkeit von der Jugend
zu erwarten, die sich selbst durchsetzen muss, also mehr
die Widerstände als die Förderung empfindet,
ist ein törichtes Verlangen. Sie kommt von selbst,
wenn der Mensch dazu reif ist. Aber oft genug kommt sie
erst an Gräbern.
In
den Jahren 1882 und 1883 hatte man begonnen, die alte
Kirche in Bühl zu einem Rathaus mit Fruchthalle
umzubauen. Nur der Turm, das alte Wahrzeichen der Stadt,
sollte erhalten bleiben; das Schiff wurde in einen
Renaissancebau verwandelt, an die Stelle des Chors trat
eine prunkhafte Torfassade. Ich habe mich für das
Fortschreiten des Baues immer lebhaft interessiert, und
als der Turm für Besucher freigegeben war, ziemlich
jeden unserer Gäste hinaufgeschleppt, um ihm die
Aussicht auf Stadt und Berge vorzuführen. Jetzt
bereitete man zur Einweihung des Rathauses eine
Ausstellung vor, die der rührige Handels- und
Gewerbeverein in die Hand nahm. Es sollte ein
Überblick über die Leistungen der in der Stadt
vertretenen Gewerbe und grösseren Betriebe gegeben
werden, und man erwartete neben vielen Gästen aus
Nah und Fern mit Bestimmtheit auch den Besuch des
Grossherzogs. Ganz Bühl war auf den Beinen, die
Fahnen flatterten, die Glocken läuteten und die
Böller knallten, als der Landesvater mit Gefolge
seinen Einzug hielt. Es war ein Grossbetrieb in der
Stadt, wie ich ihn noch nie erlebt hatte, und man muss
sagen, dass die Tüchtigkeit des Handwerks und der
Unternehmungsgeist einzelner Firmen sich sehen lassen
konnten. Mein Vater hatte als Rechner des Vereins viel
verantwortungsvolle Arbeit zu leisten, die ihm bei seinem
Weggang von Bühl durch die Ehrenmitgliedschaft
gedankt wurde. Mir sind die Abendkonzerte und Tanzabende
unter den Bogenlampen auf dem Kirchenplatz besonders gut
in Erinnerung geblieben, wenn ich auch nicht sagen kann,
dass die Bühler Jungfrauen mein Herz in neue Flammen
gesetzt hätten.
Anfangs
der Achtziger Jahre war Bühl auch der Ausgangspunkt
einer Lehrerbewegung geworden, die den
unerträglichen Besoldungs- und
Versorgungsverhältnissen durch Gründung von
Versicherungskassen und eigene
Geschäftsunternehmungen zu steuern suchte. So
entstand auf Anregung der Lehrer Dühmig, Ruska und
Jutz und des Obmanns Weinig in Bühlertal eine
Feuerversicherung, die in kurzer Zeit fast die ganze
Lehrerschaft Badens zur Selbsthilfe vereinigte, und bald
darauf die Aktiendruckerei Konkordia, die ihre
Überschüsse an den Pestalozziverein und das
Witwen- und Waisenstift abführte. Wer wissen will,
mit welchem Wohlwollen die Regierung, die politischen
Parteien und die Geschäftsleute diese durch die Not
erzwungenen Bestrebungen begleiteten, mag die
Lehrerzeitungen jener Jahre nachlesen. Dühmig trat
nach einigen Jahren aus dem Schuldienst aus und liess
sich zum Direktor der Druckerei ernennen; der Betrieb
wurde bald erweitert und blüht heute noch. Da ich
die Herren alle kannte und mein Vater mit seinem
praktischen Blick zu den tatkräftigsten
Förderern der Unternehmungen zählte, verfolgte
auch ich diese Dinge mit grossem Interesse.
Und
doch, was ging das alles mich innerlich an? Was
kümmerten mich letzten Endes die grossen und kleinen
Ereignisse des Tages? Was hatten sie mit meinen
Träumen und Sehnsüchten, meinen Erwartungen und
Zukunftsplänen zu schaffen?
Ich
suchte mir nach dem Strassburger Vorlesungsverzeichnis
einen Studienplan zurechtzulegen. Aber wer hätte mir
sagen können, welche mathematischen Vorlesungen ich
zuerst hören sollte? Nur eines stand mir
schliesslich fest, dass ich bei Ernst Laas Psychologie
und bei Windelband Geschichte der Philosophie von Kant
bis auf die Gegenwart belegen würde. Das eine wie
das andere brauchte ich, um über mich selbst und
mein Verhältnis zu Gott und Welt ins Klare zu
kommen, das Studium der Naturwissenschaften würde
sich nach und nach ganz von selber anschliessen. So
begann ich denn jetzt, mich in die Kritik der
Urteilskraft zu vertiefen und den verwegenen Entschluss
mit aller Hartnäckigkeit durchzuführen. Es
kostete viel Mühe, bis ich mich in den ungewohnten
Perioden und Gedankengängen eingermassen
zurechtgefunden hatte, doch der Gewinn blieb nicht aus,
nicht nur weil ich mich durch eine Fülle neuer
Gedanken bereichert fand, sondern auch an einem konkreten
Beispiel die Erfahrung machte, dass ich philosophischen
Gedankengängen folgen konnte. Dass mich die
Grundlegung der Aesthetik, mit der wir ja in Prima
genügend befasst worden waren, weniger fesselte als
Kants Ausführungen über die Theologische
Urteilskraft, wird man begreiflich finden: dafür war
ich eben ein künftiger Naturforscher oder doch ein
junger Mensch, den die Probleme der Naturwissenschaften
und insbesondere der organischen Schöpfung unendlich
viel tiefer bewegten als alle Ästhetik.
1)
Vom junngen Waldarbeiter auf der Badenerhöh zum
Abiturienten in Sasbach. Mit 12 Bildern. Karlsruhe
1926.