Sechsundzwanzigstes Kapitel

Wissen und Glauben.
Als frommgläubiges Kind war ich aus der Obhut des Bühler Pfarrverwesers in die Hände der Rastatter Religionslehrer Both und Steiert übergeben worden. Der sonntägliche Gottesdienst in der schönen Schlosskirche, von Amts wegen überwacht und als selbstverständliche Schülerpflicht betrachtet, lief in den gewohnten Bahnen, die Beicht- und Kommunionverpflichtungen wurden uns nicht allzu schwer gemacht. Die Religionsstunden unterschieden sich nicht wesentlich von anderen Lehrstunden; es war einerlei, ob wir Xenophon oder Matthäus lasen, ob wir profane oder Kirchengeschichte zu lernen hatten. Dass sich die Kirchengeschichte in katholischer Auffassung nicht mit der protestantischen decken konnte, und die Kämpfe zwischen Papst und Kaiser sich verschieden ausnahmen, je nachdem man auf der einen oder anderen Seite stand, war uns als Unterprimanern ebenso klar wie das Unglück der konfessionellen Spaltung und der Fluch des Dreissigjährigen Bruderkriegs. Dass wir unsere ganzen Sympathien den Männern zuwandten, die die geistige und politische Freiheit gegen ihre Bedrücker verteidigten, brauche ich auch kaum hervorzuheben. Hier konnte der Konfessionsstandpunkt gegen die freiere Darstellung des katholischen Geschichtsprofessors Zürn nicht aufkommen.

Der erste schärfere Widerspruch gegen das katholische System regte sich bei mir aber nicht von der Geschichte, sondern der sogenannten Ethik her. Steiert war dazu verurteilt, uns in Unterprima nach irgendwelchen kirchlich approbierten Heften christliche Sittenlehre beizubringen. Wäre er auf die Quellen zurückgegangen, hätte er mit uns die schlichten Lehren der Evangelien besprochen, dann wäre in uns die wahrhaft christliche Ethik lebendig geworden. Die formalistischen Moralsysteme des Probabilismus, Probabiliorismus und wie alle diese Jesuitenprodukte hiessen, haben mich mit ihren Spitzfindigkeiten jedenfalls nicht gebessert, sondern abgestossen und angeekelt. Das war kein Aktivposten für meinen Katholizismus.

Ganz schlimm wurde es aber, als Dr. Andreas Schuler an Steierts Stelle trat und uns in Oberprima mit Dogmatik und neuster Kirchengeschichte traktierte. Schuler mag ein grosser Heiliger gewesen sein, aber an ein Gymnasium, selbst an ein katholisches, passte er als Religionslehrer wie die Faust aufs Auge.

Schon Hansjakob klagt in seinen Erinnerungen aus der Studienzeit, dass die Religion, wenn sie in der Form abstrakter Glaubensätze auftrete, dem jungen Gemüt unsympathisch sei. Er habe als Primaner ein Handbuch benützen müssen, das durch seine namenlose Abstrusität, seine Unklarheit und wüstensandliche Öde förmlich dazu bestimmt gewesen sei, einem jungen Menschen die Religion zu entleiden. Er sei Theologe im ersten Kurs geworden, ohne zu wissen, wie viele Sakramente und Gebote die katholische Kirche habe. Nur das gute Beispiel, das die Anstaltslehrer durch ihren Kirchenbesuch gegeben hätten, habe den Gymnasiasten Achtung vor der Religion beigebracht. Er selbst habe weder vom Beichten noch von der Kommunion eine halbwegs richtige Vorstellung gehabt und sich wie die anderen in der Kirche in erster Linie um die Besen, d.h. die jungen Mädchen, gekümmert.

An den Dogmatikleitfaden, den wir im Gebrauch hatten, kann ich mich nicht mehr erinnern. Aber selbst wenn die Darstellung des Buches klarer gewesen wäre als das Sonnenlicht, und wenn Schuler mit Engelszungen gepredigt hätte, den Zusammenbruch meines Kinderglaubens und den radikalen Abfall hätte er nicht verhindern können. Der vollzog sich mit unerbitterlicher Logik und Konsequenz und war vollzogen, noch ehe ich das Gymnasium verliess.

Schuler unterschied sich von seinen Vorgängern wie die Nacht vom Tag, wie der Tod vom Leben. Selbst Franz Dor, sein Biograph und Schüler, muss berichten, dass über Schulers fahles Antlitz fast nie ein Lächeln kam, dass er weder durch seine Lehrweise noch durch Verständnis für die Jugend hervorragte, und dass ihm die Gabe des Gesangs, die der Geistliche beim Gottesdienst braucht, vollständig versagt war. Wenn Schuler auf der Kanzel in ergreifenden, von Liebe durchglühten Worten die Wahrheiten der alleinseligmachenden Kirche verkündigt habe, hätte man glauben können, einen Propheten aus grauer Vorzeit oder einen Missionar predigen zu hören.

Was den Gesang anlangt, so kann ich Dors Urteil aus eigener, leidvoller Erfahrung nur bestätigen. Ich hatte, als der Stadtorganist Lang durch den Turnlehrer Pflanz ersetzt worden war, für diesen das Orgelspiel beim Hauptgottesdienst übernommen, als Gegenleistung dafür, dass er mich im Turnen in Ruhe liess. Da konnte ich dann sehen, wie ich die hoffnungslosen Dissonanzen und Klagelaute Schulers bei der Präfation und dem Pater Noster oder gar beim Ite Missa Est mit den Melodien des Choralbuches zur Deckung brachte. Schulers Predigten aber waren so unsagbar beschränkt und lächerlich, dass er allenfalls bei Negerkindern oder alten Betschwestern, aber nicht mehr bei jungen Leuten, die sich demnächst dem Hochschulstudium zu widmen gedachten, auf eine erbauliche Wirkung rechnen konnte. Es gab kein sichereres Mittel, den letzten Rest von Pietät gegen Religion und Kirche auszutreiben, als wenn man uns zwang jeden Sonntag seine Ergüsse über Hölle und Fegfeuer, über das Herz Jesu und die unbefleckte Empfängnis anzuhören. Ich will dem Mann aus seiner Art keinen Vorwurf machen, er tat seine Pflicht, wie er sie verstand, aber man konnte in katholischen Kirchen auch andere Predigten hören, und er hat seiner Sache keinen Dienst erwiesen.

Wenn ich nun versuche, die Geschichte und die inneren Gründe des Abfalls mir wieder zu vergegenwärtigen, so sehe ich so viele und so verschiedenartige Kräfte an dem Zerstörungswerk beteiligt, dass ich sie nach ihrem damaligen Gewicht kaum noch alle richtig werde in Rechnung stellen können. Die Zeiten waren längst vorbei, wo meine Vorstellungen vom Ablauf der Geschichte auf einem für Kinder zurecht gemachten Auszug aus dem Alten Testament und auf den Eindrücken von zusammenhanglosen Lesestücken und Kalendergeschichten beruhten. Ich wusste jetzt, dass in Ägypten und Babylonien Weltreiche bestanden, als die hebräischen Urväter noch mit ihren Schafen und Kamelen im Land herumzogen. Ich wusste, dass zur gleichen Zeit im fernen Asien Kulturen blühten, von denen die Völker um das Mittelmeer keine Ahnung hatten. Ich wusste um die weltgeschichtliche Bedeutung der Kämpfe, die das Griechenvolk gegen die vordringende Persermacht bestand, ich bewunderte Alexander den Grossen, durch dessen beispiellose Eroberungen das Griechentum zum geistigen Herrn des ganzen vorderen Orients wurde. Ich sah, wie sich die Heilsbotschaft von dem Erlösungstod Christi ausbreitete und trotz unsagbarer Leiden und Verfolgungen die ganze römisch-griechische Welt und schliesslich die germanischen und slavischen Völker untertan machte. Aber ich sah auch, dass das Christentum kaum über diesen Völkerkreis hinausdrang, dass es sich in Sekten und Konfessionen spaltete, die sich blutig bekämpften und gegenseitig auszurotten trachteten, dass sich neben ihm neuere Religionen ausbreiteten, die den gleichen Anspruch auf Weltgeltung machten, und dass ungeheure Gebiete der Erde von all diesen Bewegungen unberührt blieben. Wo sollte ein Richter gefunden werden, der allen diesen geschichtlichen Tatsachen gerecht wurde? Den angestammten Glauben aufzugeben, von dem überkommenen Bekenntnis zu einem anderen überzutreten, dazu lag kein Anlass vor, aber das Recht jedes Menschen, nach seiner Facon selig zu werden, konnte man nicht bestreiten, wenn man sich nicht weltfremd in dogmatischen Konstruktionen verfangen und in hochmütigem Unfehlbarkeitsdünkel verharren wollte.

Ich entsinne mich nicht, jemals mit protestantischen oder gar jüdischen Mitschülern Religionsgespräche geführt zu haben. Die einen gingen in die katholische, die anderen in die evangelische Kirche, man hatte verschiedenen Religionsunterricht, aber kümmerte sich kaum um den Inhalt der anderen Lehre. Dass Luther die Messe, den Zölibat, die Beichte, das Latein abgeschafft hatte und die Protestanten sich trotzdem für Christen hielten, konnte zu denken geben; dass die Reformatoren dem Abendmahl einen ganz anderen Sinn unterlegten als die katholische Kirche, ist mir bei einem schweren inneren Konflikt zur Rettung geworden.

Wir standen auch in Oberprima noch unter dem Beicht- und Kommunionzwang, aber ich war mit dem gesamten Dogma schon so zerfallen, dass ich es als eine Qual empfand, die Zeremonie vor der Entlassung noch einmal mitzufeiern. Konnte ich vor der ganzen Schule einen Skandal heraufbeschwören, in dem ich Thesen gegen das Dogma an die Tür der Schlosskirche als ein weiterer Luther heftete? Ich hätte ja nicht nur meinen Abfall vom Katholizismus, sondern vom Christentum in jeder Form bekennen müssen. Ich fügte mich und legte mir die Feier als Huldigung vor dem grossen religiösen Lehrer zurecht, aber ich nahm nicht die magisch verwandelte Oblate, um Vergebung meiner Sünden zu erlangen.

Es war die letzte Handlung dieser Art. Als mich meine Mutter Ostern 1885 an meine kirchlichen Pflichten mahnte, hatte ich noch nicht den Mut, ihrem Wunsch offen zu widersprechen. Unschlüssig, was ich tun sollte, begab ich mich auf den Weg zur Kirche. Aber es ging einfach nicht mehr; ich bog in die Felder ab und kam unverrichteter Dinge wieder nach Hause. Einige Monate später sprach ich mich aus, und wurde nicht weiter gequält. Von da an war ich nur noch meinem Gewissen verantwortlich.

Es war mir unmöglich geworden zu glauben, dass das Zauberwort eines katholischen Priesters eine Oblate aus Mehl in den wahren Leib und das wahre Blut Christi verwandeln könne. Solcher Glaube mochte in eine Zeit passen, wo noch das ganze Leben, die ganze Natur voll gespenstischer und unerklärlicher Vorgänge war, wo noch keine Mensch eine Vorstellung von naturgesetzlichem Geschehen hatte und Verwandlungen der unglaublichsten Art mit und ohne Zaubersprüche als möglich und wirklich galten. Auch wenn es in den Evangelien stand, dass das Brot der Leib und der Wein das Blut sei, so konnte doch kein Mensch verpflichtet werden, eine offensichtlich symbolisch gemeinte Äusserung wörtlich zu verstehen und aus einer Gedächtnisfeier eine Zauberhandlung zu machen! Und wenn man sich gar noch die Zauberer selber ansah, mit denen man vielleicht ein paar Jahre vorher auf den Schulbänken und in den Kneipen herumgesessen war, die jetzt aber den Anspruch erhoben, Wunder zu wirken und die Pforten von Himmel und Hölle auf- oder zuzuschliessen!

War das zentrale katholische Dogma aufgegeben, so konnte man sich immer noch an den protestantischen Kirchen- und Glaubensbegriff gebunden halten. Aber nichts lockte mich, das alte, vertraute Gefängnis mit einem neuen zu vertauschen. Der beschränkte Buchstabenglaube der protestantischen Orthodoxie, die aus der Bibel einen Fetisch machte, war mir noch unerträglicher als die Wundersucht des Katholizismus; von dem liberalen Protestantismus aber wusste ich zu wenig, als dass er auf mich irgendwelchen Einfluss hätte haben können.

Es ging nicht nur um die Abendmahlslehre. Das ganze christliche Heils- und Erlösungsdogma musste zusammenbrechen, wenn es auf unmöglichen Grundlagen und Voraussetzungen beruhte. Alles hing von der Beantwortung der Frage ab, ob man die Dinge, die im Alten und Neuen Testament berichtet wurden, als absolute Wahrheiten und göttliche Offenbarungen hinnehmen und glauben musste, auch wenn sie jeder geschichtlichen und naturwissenschaftlichen Erkenntnis ins Gesicht schlugen.

Nach der allen Konfessionen gemeinsamen Theorie war die Welt vor 6000 Jahren von Gott in sieben Tagen aus Nichts geschaffen worden; ich habe es in einem früheren Kapitel für solche, die es vergessen haben, genauer erzählt. Sündenfall, Abgötterei, Sündflut, Auserwählung des Judenvolks, erneuter Unglaube - so zieht sich die Weltgeschichte hin, bis Gott sich selbst einen Sohn erzeugt und durch dessen Kreuzigung unter Pontius Pilatus die Menschheit erlöst. Christus fuhr in die Hölle hinab, steht nach drei Tagen von den Toten auf, fährt nach vierzig Tagen in den Himmel und wartet dort ab, was weiter aus der Menschheit wird. Unendliche Millionen erfahren überhaupt nichts von der Heilsbotschaft und gehen verloren, andere, unzählige Millionen fahren in Sünden dahin, nur wenige werden wirklich gerettet. Das Weltende bricht herein, das grosse Strafgericht beginnt, die Masse der Menschheit wird zu ewigem Rösten und Brennen verdammt, ein verschwindender Teil nur, hauptsächlich wohl die Geistlichkeit, geht zu ewiger Anbetung und unbeschreiblicher Herrlichkeit in den Himmel ein.

So stellt sich dem gläubigen Christen Sinn und Ende der Schöpfung eines allmächtigen, allweisen, allgütigen und allbarmherzigen Gottes dar. Worauf gründen sich seine Überzeugungen? Zunächst einmal auf das Alte Testament. Auf einen Schöpfungsbericht von unsagbarer Kindlichkeit, auf eine Geschichte von der Erschaffung des ersten Menschenpaars, an die kein Kind mehr glaubt und die zu erfinden oder gar Gott als Offenbarung zuzuschreiben man sich schämen würde, wenn sie nicht den Anfang der Bücher Moses bildete, also auch für die Christen verpflichtend wäre. Auf einen Sündflutbericht von nicht geringerer Kindlichkeit, über den man nur einen Augenblick nachzudenken brauchte, um seine ganze Nichtigkeit zu erkennen, auch wenn man nicht wüsste, dass er einem altbabylonischen Göttermythos nachgebildet ist. Auf Berichten über die Urväter der Juden, deren Märchenhaftigkeit höchstens noch von der Wanderung der Juden durch die Wüste übertroffen wird, in der die Wunder kein Ende nehmen.

Und doch, was wollten die Wunder im Alten Testament gegen die ununterbrochene Folge von Wundern bedeuten, die die Evangelien von der Verkündigung und der Geburt Jesu bis zu seinem Tod und seiner Himmelfahrt berichten! Engel an allen Ecken und Enden, Stimmen und Erscheinungen Gottes, Erscheinungen des heiligen Geistes und des Teufels, wunderbare Sterne und dreistündige Sonnenfinsternisse, Öffnung von Gräbern und Erscheinungen von Toten, Höllenfahrt und Himmelfahrt, Sprachenwunder und feurige Zungen, von den Speisungen und Heilungswundern zu schweigen, die Jesus selber gewirkt haben sollte. Das alles, so unmöglich und unvorstellbar es war, musste dem Christen als Zeugnis für die Göttlichkeit Christi gelten, weil wundersüchtige und religiös überspannte Menschen das vor 1800 Jahren geglaubt hatten, und weil durch die Arbeit von Kirchenlehrern in Jahrhunderten ein Riesenbau von neuen Fabeln, Wundern und Dogmen über den ältesten Urkunden des Glaubens errichtet worden war.

Was sollte man von der Allwissenheit Gottes halten, wenn er im Alten Testament von seiner eigenen Schöpfung einen so unzulänglichen und verkehrten Begriff gab, dass ihn jeder Schüler beschämen konnte, der etwas von Astronomie und Geologie gehört hatte? Was sollte man von Gottes Allmacht und Barmherzigkeit denken, wenn er überall den Teufel regieren liess, anstatt durch dessen Vernichtung mit einem Schlag das Elend aus der Welt zu schaffen? Was war das für eine kindische Gottesvorstellung, die ihn wie einen Menschen mit menschlichen Organen, Empfindungen und Leidenschaften beschrieb? Da erzählte die Bibel, wie Gott den Adam mit eigenen Händen aus einen Lehmklumpen nach seinem Bilde modellierte und ihm einen lebendigen Odem in die Nase blies, wie er persönlich einen Garten pflanzte, um den Adam hineinzusetzen, nach einiger Zeit aber nötig fand, ihm eine Rippe herauszunehmen, um daraus die Eva zu formen, wie eine - vermutlich hebräisch sprechende - Schlange, die listiger war als alle Tiere auf dem Felde, die Eva darauf aufmerksam mache, dass von dem verbotenen Baum gut zu essen wäre, und wie Gott die erste Dummheit der Menschen gleich so furchtbar strafte, dass er die ganze Menschheit für alle Zeiten zu Kummer und Arbeit verfluchte ... Am Ende aber stand die Offenbarung Johannis, die Ausgeburt eines Wahnsinnigen, der die Theologen ihre Gedanken über das jüngste Gericht entnahmen.

Ich wusste wohl, es gab noch Leute genug, die an den Buchstaben glaubten, und genau wussten, wie es in der Hölle aussah, und mit welchen Qualen die kuhschwänzigen, gehörnten Teufel die armen Seelen zwicken - es war zwecklos, sie widerlegen zu wollen. Wäre mir das berühmte Buch des Dr. Bautz über die Hölle in die Hand gekommen, das im Jahr 1882 zum ersten Mal gedruckt wurde, wer weiss, vielleicht wäre meine Seele noch zu retten gewesen. Aber wenn Schulers persönlicher Vortrag, der an Bestimmtheit nichts vermissen liess, meine Zweifel nicht beseitigen konnte, so wären wohl auch Bautzens Ausführungen über Dasein, Ort und Dauer der Hölle, über Einteilung und weitere Begründung der Höllenstrafen, über die Rangordnung der Teufel in und ausserhalb der Hölle und über die Proprietäten und Beigaben der ewigen Unglückseligkeit an meinem rebellischem Gemüte abgeprallt.

Man konnte niemand zwingen, an die Kugelgestalt der Erde, an das heliozentrische System und an die geologischen Zeitalter zu glaube; man konnte auch niemand verwehren, die ägyptischen Plagen, den feurigen Wagen des Elias und die Austreibung von Teufeln als Tatsachen hinzunehmen. Damals, in der Unerfahrenheit meiner Jünglingsjahre, war ich der naiven Meinung, dass man sich entscheiden müsse, dass es in Fragen der Weltanschauung und des Gewissens nur ein Entweder-Oder gebe. Später habe ich genug Leute, sogar akademisch gebildete Naturforscher kennengelernt, die je nach dem Wind von oben heute die eine, morgen die andere Seite ihres Doppeldaseins herauskehrten. Ich will nicht behaupten, dass das lauter Heuchler, Streber und Feiglinge waren; auch nicht, dass die mutigen Bekenner sich für alle Fälle ein Hintertürchen offen lassen wollten, falls es doch im Sinne der Offenbarung Johannis zu einer letzten Abrechnung käme - aber als Charakterathleten hatte ich diese Zeitgenossen niemals anerkennen können.

Wenn das alte Weltbild zusammenbrach, wenn der Glaube an Lohn und Strafe, an ewige Seligkeiten und Verdammnisse für die irdische Laufbahn ins Wanken kam, musste da nicht auch die ganze sittliche Lebensführung zusammenbrechen?

Eine vielgestellte und von kirchlicher Seite gar zu gern und bequem bejahte Frage - eine Frage, die auch mich jetzt aufs Tiefste erregen musste. Ich hatte bis dahin keinen Anlass gehabt, über die Unterschiede in der Sittlichkeit von Heiden, Juden und Christen nachzudenken. Aber hatten es die Heiden, denen keine Offenbarung zu Gebote stand, jemals schlimmer getrieben als die Juden, von deren gottlosen Treiben jede Seite des Alten Testaments berichtete? Oder war die Geschichte der christlichen Völker geeignet, in ihren Auswirkungen die Göttlichkeit des Christentums zu erweisen? Hatten die Kriege, die Verbrechen an Leib und Leben, die Lasterhaftigkeit und der Betrug in den Jahrhunderten der Ausbreitung und Herrschaft des Christentums etwa abgenommen? War der Hexen- und Teufelsglaube, waren Inquisition und Glaubenskriege nicht ebenso viele Beweise gegen die göttliche Leitung der christlichen Völker? War der Hass der Konfessionen der Weg, auf dem die Menschheit Erlösung finden konnte?

Aber ich brauchte ja nicht an diese traurigen Tatsachen zu denken, wenn es sich um meine eigene Haltung handelte. Ich brauchte kein Verbrecher zu werden, wenn ich morsche Stützen des Glaubens wegwarf, ich konnte mich an das Grundgebot des Christentums halten, auch wenn ich nicht die Hoffnung auf himmlischen Lohn und die Furcht vor dem Teufel zu Triebfedern meines Handelns machte. Achtung vor den Rechten des Andern, Selbstachtung und Wahrhaftigkeit, Ehr- und Pflichtgefühl - das waren Erbanlagen und Erziehungsergebnisse, mit denen ich durch das Leben zu kommen hoffte, auch wenn ich auf die besondere Weihe verzichtete, die die kirchliche Hörigkeit verlieh. Was hatte mir alle Religion in den Kämpfen meiner jungen Jahre geholfen? Wer hatte mir in den dunklen Fragen des Lebens, die sich mit unentrinnbarer Gewalt an mich herandrängten, hilfreiche Hand geboten? Die die Nächsten hätten sein müssen, wagte ich nicht zu befragen; die Scheu vor den Eltern war unüberwindlich. Von denen, die dauernd nur von Sünde und Laster redeten, konnte man noch weniger Aufklärung erwarten. Eine grenzenlose Prüderie, eine noch grössere Geheimniskrämerei liess die unschuldigsten Dinge als unsittlich erscheinen, oder zwang zu unsinnigen Vermutungen, wo ein ruhiges, klares Wort alle Zweifel zerstreut hätte. So blieb nichts übrig als den Unflat anzuhören oder abzuwehren, den die Wissenden zum besten gaben, und sachliche Aufklärung da zu suchen, wo sie allenfalls noch zu finden war. Ich weiss nicht mehr, in welchen grossen Ferien ich zu den Bänden des Meyer´schen Lexikons gegriffen habe, um endlich zu erfahren, was andere längst auf anderen Wegen erfahren hatten. Wie damals Höchstes und Tiefstes, Göttliches, Menschliches und Allzumenschliches durcheinanderwirbelten, wer vermöchte das in aller Treue wiederzugeben?

Ich war, als ich von der Schule Abschied nahm, nicht gesonnen, auch nur einen Fingerbreit von den Grundsätzen abzuweichen, die mir als Leitsterne für die Zukunft vor Augen standen. Jetzt verstand ich auch, was mir mein Vater, als ich zwölf Jahre alt war, in das Tagebuch geschrieben hat. Es blieb die Aufgabe, das Leben von Grund auf neu zu bauen, nachdem die Stützen, die der Kinderglaube bot, zerbrochen waren. Die Aufgabe konnte nur gelöst werden, wenn ich mich der Führung der grossen Denker anvertraute, die dem menschlichen Leben Sinn und Gesetz zu geben wussten, ohne für sich eine überweltliche Erleuchtung des Geistes in Anspruch zu nehmen.

Wäre Rivola noch an der Schule gewesen, ich hätte ihn sicherlich um seinen Rat gebeten. Was ich von Zürn erfahren könnte, war nicht besonders tiefgründig, philosophische Fragen lagen ihm weniger als Literaturgeschichte. So kaufte ich mir noch in Rastatt, als Lektüre für die Ferien, auf eigene Faust Kants Kritik der Urteilskraft in der Reclamausgabe. Ich glaubte wohl, dass es vor allem darauf ankomme, die Kraft des Urteils zu kritisieren, um in die Geheimnisse der Weltweisheit einzudringen. Hilfloser, unwissender und zugleich vertrauensvoller ist nicht leicht ein angehender Student der Philosophie in die Arme gesunken.


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© Julius Ruska 1937