Als
frommgläubiges Kind war ich aus der Obhut des
Bühler Pfarrverwesers in die Hände der
Rastatter Religionslehrer Both und Steiert übergeben
worden. Der sonntägliche Gottesdienst in der
schönen Schlosskirche, von Amts wegen überwacht
und als selbstverständliche Schülerpflicht
betrachtet, lief in den gewohnten Bahnen, die Beicht- und
Kommunionverpflichtungen wurden uns nicht allzu schwer
gemacht. Die Religionsstunden unterschieden sich nicht
wesentlich von anderen Lehrstunden; es war einerlei, ob
wir Xenophon oder Matthäus lasen, ob wir profane
oder Kirchengeschichte zu lernen hatten. Dass sich die
Kirchengeschichte in katholischer Auffassung nicht mit
der protestantischen decken konnte, und die Kämpfe
zwischen Papst und Kaiser sich verschieden ausnahmen, je
nachdem man auf der einen oder anderen Seite stand, war
uns als Unterprimanern ebenso klar wie das Unglück
der konfessionellen Spaltung und der Fluch des
Dreissigjährigen Bruderkriegs. Dass wir unsere
ganzen Sympathien den Männern zuwandten, die die
geistige und politische Freiheit gegen ihre
Bedrücker verteidigten, brauche ich auch kaum
hervorzuheben. Hier konnte der Konfessionsstandpunkt
gegen die freiere Darstellung des katholischen
Geschichtsprofessors Zürn nicht aufkommen.
Der
erste schärfere Widerspruch gegen das katholische
System regte sich bei mir aber nicht von der Geschichte,
sondern der sogenannten Ethik her. Steiert war dazu
verurteilt, uns in Unterprima nach irgendwelchen
kirchlich approbierten Heften christliche Sittenlehre
beizubringen. Wäre er auf die Quellen
zurückgegangen, hätte er mit uns die schlichten
Lehren der Evangelien besprochen, dann wäre in uns
die wahrhaft christliche Ethik lebendig geworden. Die
formalistischen Moralsysteme des Probabilismus,
Probabiliorismus und wie alle diese Jesuitenprodukte
hiessen, haben mich mit ihren Spitzfindigkeiten
jedenfalls nicht gebessert, sondern abgestossen und
angeekelt. Das war kein Aktivposten für meinen
Katholizismus.
Ganz
schlimm wurde es aber, als Dr. Andreas Schuler an
Steierts Stelle trat und uns in Oberprima mit Dogmatik
und neuster Kirchengeschichte traktierte. Schuler mag ein
grosser Heiliger gewesen sein, aber an ein Gymnasium,
selbst an ein katholisches, passte er als Religionslehrer
wie die Faust aufs Auge.
Schon
Hansjakob klagt in seinen Erinnerungen aus der
Studienzeit, dass die Religion, wenn sie in der Form
abstrakter Glaubensätze auftrete, dem jungen
Gemüt unsympathisch sei. Er habe als Primaner ein
Handbuch benützen müssen, das durch seine
namenlose Abstrusität, seine Unklarheit und
wüstensandliche Öde förmlich dazu bestimmt
gewesen sei, einem jungen Menschen die Religion zu
entleiden. Er sei Theologe im ersten Kurs geworden, ohne
zu wissen, wie viele Sakramente und Gebote die
katholische Kirche habe. Nur das gute Beispiel, das die
Anstaltslehrer durch ihren Kirchenbesuch gegeben
hätten, habe den Gymnasiasten Achtung vor der
Religion beigebracht. Er selbst habe weder vom Beichten
noch von der Kommunion eine halbwegs richtige Vorstellung
gehabt und sich wie die anderen in der Kirche in erster
Linie um die Besen, d.h. die jungen Mädchen,
gekümmert.
An
den Dogmatikleitfaden, den wir im Gebrauch hatten, kann
ich mich nicht mehr erinnern. Aber selbst wenn die
Darstellung des Buches klarer gewesen wäre als das
Sonnenlicht, und wenn Schuler mit Engelszungen gepredigt
hätte, den Zusammenbruch meines Kinderglaubens und
den radikalen Abfall hätte er nicht verhindern
können. Der vollzog sich mit unerbitterlicher Logik
und Konsequenz und war vollzogen, noch ehe ich das
Gymnasium verliess.
Schuler
unterschied sich von seinen Vorgängern wie die Nacht
vom Tag, wie der Tod vom Leben. Selbst Franz Dor, sein
Biograph und Schüler, muss berichten, dass über
Schulers fahles Antlitz fast nie ein Lächeln kam,
dass er weder durch seine Lehrweise noch durch
Verständnis für die Jugend hervorragte, und
dass ihm die Gabe des Gesangs, die der Geistliche beim
Gottesdienst braucht, vollständig versagt war. Wenn
Schuler auf der Kanzel in ergreifenden, von Liebe
durchglühten Worten die Wahrheiten der
alleinseligmachenden Kirche verkündigt habe,
hätte man glauben können, einen Propheten aus
grauer Vorzeit oder einen Missionar predigen zu
hören.
Was
den Gesang anlangt, so kann ich Dors Urteil aus eigener,
leidvoller Erfahrung nur bestätigen. Ich hatte, als
der Stadtorganist Lang durch den Turnlehrer Pflanz
ersetzt worden war, für diesen das Orgelspiel beim
Hauptgottesdienst übernommen, als Gegenleistung
dafür, dass er mich im Turnen in Ruhe liess. Da
konnte ich dann sehen, wie ich die hoffnungslosen
Dissonanzen und Klagelaute Schulers bei der
Präfation und dem Pater Noster oder gar beim Ite
Missa Est mit den Melodien des Choralbuches zur Deckung
brachte. Schulers Predigten aber waren so unsagbar
beschränkt und lächerlich, dass er allenfalls
bei Negerkindern oder alten Betschwestern, aber nicht
mehr bei jungen Leuten, die sich demnächst dem
Hochschulstudium zu widmen gedachten, auf eine erbauliche
Wirkung rechnen konnte. Es gab kein sichereres Mittel,
den letzten Rest von Pietät gegen Religion und
Kirche auszutreiben, als wenn man uns zwang jeden Sonntag
seine Ergüsse über Hölle und Fegfeuer,
über das Herz Jesu und die unbefleckte
Empfängnis anzuhören. Ich will dem Mann aus
seiner Art keinen Vorwurf machen, er tat seine Pflicht,
wie er sie verstand, aber man konnte in katholischen
Kirchen auch andere Predigten hören, und er hat
seiner Sache keinen Dienst erwiesen.
Wenn
ich nun versuche, die Geschichte und die inneren
Gründe des Abfalls mir wieder zu
vergegenwärtigen, so sehe ich so viele und so
verschiedenartige Kräfte an dem Zerstörungswerk
beteiligt, dass ich sie nach ihrem damaligen Gewicht kaum
noch alle richtig werde in Rechnung stellen können.
Die Zeiten waren längst vorbei, wo meine
Vorstellungen vom Ablauf der Geschichte auf einem
für Kinder zurecht gemachten Auszug aus dem Alten
Testament und auf den Eindrücken von
zusammenhanglosen Lesestücken und
Kalendergeschichten beruhten. Ich wusste jetzt, dass in
Ägypten und Babylonien Weltreiche bestanden, als die
hebräischen Urväter noch mit ihren Schafen und
Kamelen im Land herumzogen. Ich wusste, dass zur gleichen
Zeit im fernen Asien Kulturen blühten, von denen die
Völker um das Mittelmeer keine Ahnung hatten. Ich
wusste um die weltgeschichtliche Bedeutung der
Kämpfe, die das Griechenvolk gegen die vordringende
Persermacht bestand, ich bewunderte Alexander den
Grossen, durch dessen beispiellose Eroberungen das
Griechentum zum geistigen Herrn des ganzen vorderen
Orients wurde. Ich sah, wie sich die Heilsbotschaft von
dem Erlösungstod Christi ausbreitete und trotz
unsagbarer Leiden und Verfolgungen die ganze
römisch-griechische Welt und schliesslich die
germanischen und slavischen Völker untertan machte.
Aber ich sah auch, dass das Christentum kaum über
diesen Völkerkreis hinausdrang, dass es sich in
Sekten und Konfessionen spaltete, die sich blutig
bekämpften und gegenseitig auszurotten trachteten,
dass sich neben ihm neuere Religionen ausbreiteten, die
den gleichen Anspruch auf Weltgeltung machten, und dass
ungeheure Gebiete der Erde von all diesen Bewegungen
unberührt blieben. Wo sollte ein Richter gefunden
werden, der allen diesen geschichtlichen Tatsachen
gerecht wurde? Den angestammten Glauben aufzugeben, von
dem überkommenen Bekenntnis zu einem anderen
überzutreten, dazu lag kein Anlass vor, aber das
Recht jedes Menschen, nach seiner Facon selig zu werden,
konnte man nicht bestreiten, wenn man sich nicht
weltfremd in dogmatischen Konstruktionen verfangen und in
hochmütigem Unfehlbarkeitsdünkel verharren
wollte.
Ich
entsinne mich nicht, jemals mit protestantischen oder gar
jüdischen Mitschülern Religionsgespräche
geführt zu haben. Die einen gingen in die
katholische, die anderen in die evangelische Kirche, man
hatte verschiedenen Religionsunterricht, aber
kümmerte sich kaum um den Inhalt der anderen Lehre.
Dass Luther die Messe, den Zölibat, die Beichte, das
Latein abgeschafft hatte und die Protestanten sich
trotzdem für Christen hielten, konnte zu denken
geben; dass die Reformatoren dem Abendmahl einen ganz
anderen Sinn unterlegten als die katholische Kirche, ist
mir bei einem schweren inneren Konflikt zur Rettung
geworden.
Wir
standen auch in Oberprima noch unter dem Beicht- und
Kommunionzwang, aber ich war mit dem gesamten Dogma schon
so zerfallen, dass ich es als eine Qual empfand, die
Zeremonie vor der Entlassung noch einmal mitzufeiern.
Konnte ich vor der ganzen Schule einen Skandal
heraufbeschwören, in dem ich Thesen gegen das Dogma
an die Tür der Schlosskirche als ein weiterer Luther
heftete? Ich hätte ja nicht nur meinen Abfall vom
Katholizismus, sondern vom Christentum in jeder Form
bekennen müssen. Ich fügte mich und legte mir
die Feier als Huldigung vor dem grossen religiösen
Lehrer zurecht, aber ich nahm nicht die magisch
verwandelte Oblate, um Vergebung meiner Sünden zu
erlangen.
Es
war die letzte Handlung dieser Art. Als mich meine Mutter
Ostern 1885 an meine kirchlichen Pflichten mahnte, hatte
ich noch nicht den Mut, ihrem Wunsch offen zu
widersprechen. Unschlüssig, was ich tun sollte,
begab ich mich auf den Weg zur Kirche. Aber es ging
einfach nicht mehr; ich bog in die Felder ab und kam
unverrichteter Dinge wieder nach Hause. Einige Monate
später sprach ich mich aus, und wurde nicht weiter
gequält. Von da an war ich nur noch meinem Gewissen
verantwortlich.
Es
war mir unmöglich geworden zu glauben, dass das
Zauberwort eines katholischen Priesters eine Oblate aus
Mehl in den wahren Leib und das wahre Blut Christi
verwandeln könne. Solcher Glaube mochte in eine Zeit
passen, wo noch das ganze Leben, die ganze Natur voll
gespenstischer und unerklärlicher Vorgänge war,
wo noch keine Mensch eine Vorstellung von
naturgesetzlichem Geschehen hatte und Verwandlungen der
unglaublichsten Art mit und ohne Zaubersprüche als
möglich und wirklich galten. Auch wenn es in den
Evangelien stand, dass das Brot der Leib und der Wein das
Blut sei, so konnte doch kein Mensch verpflichtet werden,
eine offensichtlich symbolisch gemeinte Äusserung
wörtlich zu verstehen und aus einer
Gedächtnisfeier eine Zauberhandlung zu machen! Und
wenn man sich gar noch die Zauberer selber ansah, mit
denen man vielleicht ein paar Jahre vorher auf den
Schulbänken und in den Kneipen herumgesessen war,
die jetzt aber den Anspruch erhoben, Wunder zu wirken und
die Pforten von Himmel und Hölle auf- oder
zuzuschliessen!
War
das zentrale katholische Dogma aufgegeben, so konnte man
sich immer noch an den protestantischen Kirchen- und
Glaubensbegriff gebunden halten. Aber nichts lockte mich,
das alte, vertraute Gefängnis mit einem neuen zu
vertauschen. Der beschränkte Buchstabenglaube der
protestantischen Orthodoxie, die aus der Bibel einen
Fetisch machte, war mir noch unerträglicher als die
Wundersucht des Katholizismus; von dem liberalen
Protestantismus aber wusste ich zu wenig, als dass er auf
mich irgendwelchen Einfluss hätte haben
können.
Es
ging nicht nur um die Abendmahlslehre. Das ganze
christliche Heils- und Erlösungsdogma musste
zusammenbrechen, wenn es auf unmöglichen Grundlagen
und Voraussetzungen beruhte. Alles hing von der
Beantwortung der Frage ab, ob man die Dinge, die im Alten
und Neuen Testament berichtet wurden, als absolute
Wahrheiten und göttliche Offenbarungen hinnehmen und
glauben musste, auch wenn sie jeder geschichtlichen und
naturwissenschaftlichen Erkenntnis ins Gesicht
schlugen.
Nach
der allen Konfessionen gemeinsamen Theorie war die Welt
vor 6000 Jahren von Gott in sieben Tagen aus Nichts
geschaffen worden; ich habe es in einem früheren
Kapitel für solche, die es vergessen haben, genauer
erzählt. Sündenfall, Abgötterei,
Sündflut, Auserwählung des Judenvolks, erneuter
Unglaube - so zieht sich die Weltgeschichte hin, bis Gott
sich selbst einen Sohn erzeugt und durch dessen
Kreuzigung unter Pontius Pilatus die Menschheit
erlöst. Christus fuhr in die Hölle hinab, steht
nach drei Tagen von den Toten auf, fährt nach
vierzig Tagen in den Himmel und wartet dort ab, was
weiter aus der Menschheit wird. Unendliche Millionen
erfahren überhaupt nichts von der Heilsbotschaft und
gehen verloren, andere, unzählige Millionen fahren
in Sünden dahin, nur wenige werden wirklich
gerettet. Das Weltende bricht herein, das grosse
Strafgericht beginnt, die Masse der Menschheit wird zu
ewigem Rösten und Brennen verdammt, ein
verschwindender Teil nur, hauptsächlich wohl die
Geistlichkeit, geht zu ewiger Anbetung und
unbeschreiblicher Herrlichkeit in den Himmel
ein.
So
stellt sich dem gläubigen Christen Sinn und Ende der
Schöpfung eines allmächtigen, allweisen,
allgütigen und allbarmherzigen Gottes dar. Worauf
gründen sich seine Überzeugungen? Zunächst
einmal auf das Alte Testament. Auf einen
Schöpfungsbericht von unsagbarer Kindlichkeit, auf
eine Geschichte von der Erschaffung des ersten
Menschenpaars, an die kein Kind mehr glaubt und die zu
erfinden oder gar Gott als Offenbarung zuzuschreiben man
sich schämen würde, wenn sie nicht den Anfang
der Bücher Moses bildete, also auch für die
Christen verpflichtend wäre. Auf einen
Sündflutbericht von nicht geringerer Kindlichkeit,
über den man nur einen Augenblick nachzudenken
brauchte, um seine ganze Nichtigkeit zu erkennen, auch
wenn man nicht wüsste, dass er einem
altbabylonischen Göttermythos nachgebildet ist. Auf
Berichten über die Urväter der Juden, deren
Märchenhaftigkeit höchstens noch von der
Wanderung der Juden durch die Wüste übertroffen
wird, in der die Wunder kein Ende nehmen.
Und
doch, was wollten die Wunder im Alten Testament gegen die
ununterbrochene Folge von Wundern bedeuten, die die
Evangelien von der Verkündigung und der Geburt Jesu
bis zu seinem Tod und seiner Himmelfahrt berichten! Engel
an allen Ecken und Enden, Stimmen und Erscheinungen
Gottes, Erscheinungen des heiligen Geistes und des
Teufels, wunderbare Sterne und dreistündige
Sonnenfinsternisse, Öffnung von Gräbern und
Erscheinungen von Toten, Höllenfahrt und
Himmelfahrt, Sprachenwunder und feurige Zungen, von den
Speisungen und Heilungswundern zu schweigen, die Jesus
selber gewirkt haben sollte. Das alles, so unmöglich
und unvorstellbar es war, musste dem Christen als Zeugnis
für die Göttlichkeit Christi gelten, weil
wundersüchtige und religiös überspannte
Menschen das vor 1800 Jahren geglaubt hatten, und weil
durch die Arbeit von Kirchenlehrern in Jahrhunderten ein
Riesenbau von neuen Fabeln, Wundern und Dogmen über
den ältesten Urkunden des Glaubens errichtet worden
war.
Was
sollte man von der Allwissenheit Gottes halten, wenn er
im Alten Testament von seiner eigenen Schöpfung
einen so unzulänglichen und verkehrten Begriff gab,
dass ihn jeder Schüler beschämen konnte, der
etwas von Astronomie und Geologie gehört hatte? Was
sollte man von Gottes Allmacht und Barmherzigkeit denken,
wenn er überall den Teufel regieren liess, anstatt
durch dessen Vernichtung mit einem Schlag das Elend aus
der Welt zu schaffen? Was war das für eine kindische
Gottesvorstellung, die ihn wie einen Menschen mit
menschlichen Organen, Empfindungen und Leidenschaften
beschrieb? Da erzählte die Bibel, wie Gott den Adam
mit eigenen Händen aus einen Lehmklumpen nach seinem
Bilde modellierte und ihm einen lebendigen Odem in die
Nase blies, wie er persönlich einen Garten pflanzte,
um den Adam hineinzusetzen, nach einiger Zeit aber
nötig fand, ihm eine Rippe herauszunehmen, um daraus
die Eva zu formen, wie eine - vermutlich hebräisch
sprechende - Schlange, die listiger war als alle Tiere
auf dem Felde, die Eva darauf aufmerksam mache, dass von
dem verbotenen Baum gut zu essen wäre, und wie Gott
die erste Dummheit der Menschen gleich so furchtbar
strafte, dass er die ganze Menschheit für alle
Zeiten zu Kummer und Arbeit verfluchte ... Am Ende aber
stand die Offenbarung Johannis, die Ausgeburt eines
Wahnsinnigen, der die Theologen ihre Gedanken über
das jüngste Gericht entnahmen.
Ich
wusste wohl, es gab noch Leute genug, die an den
Buchstaben glaubten, und genau wussten, wie es in der
Hölle aussah, und mit welchen Qualen die
kuhschwänzigen, gehörnten Teufel die armen
Seelen zwicken - es war zwecklos, sie widerlegen zu
wollen. Wäre mir das berühmte Buch des Dr.
Bautz über die Hölle in die Hand gekommen, das
im Jahr 1882 zum ersten Mal gedruckt wurde, wer weiss,
vielleicht wäre meine Seele noch zu retten gewesen.
Aber wenn Schulers persönlicher Vortrag, der an
Bestimmtheit nichts vermissen liess, meine Zweifel nicht
beseitigen konnte, so wären wohl auch Bautzens
Ausführungen über Dasein, Ort und Dauer der
Hölle, über Einteilung und weitere
Begründung der Höllenstrafen, über die
Rangordnung der Teufel in und ausserhalb der Hölle
und über die Proprietäten und Beigaben der
ewigen Unglückseligkeit an meinem rebellischem
Gemüte abgeprallt.
Man
konnte niemand zwingen, an die Kugelgestalt der Erde, an
das heliozentrische System und an die geologischen
Zeitalter zu glaube; man konnte auch niemand verwehren,
die ägyptischen Plagen, den feurigen Wagen des Elias
und die Austreibung von Teufeln als Tatsachen
hinzunehmen. Damals, in der Unerfahrenheit meiner
Jünglingsjahre, war ich der naiven Meinung, dass man
sich entscheiden müsse, dass es in Fragen der
Weltanschauung und des Gewissens nur ein Entweder-Oder
gebe. Später habe ich genug Leute, sogar akademisch
gebildete Naturforscher kennengelernt, die je nach dem
Wind von oben heute die eine, morgen die andere Seite
ihres Doppeldaseins herauskehrten. Ich will nicht
behaupten, dass das lauter Heuchler, Streber und
Feiglinge waren; auch nicht, dass die mutigen Bekenner
sich für alle Fälle ein Hintertürchen
offen lassen wollten, falls es doch im Sinne der
Offenbarung Johannis zu einer letzten Abrechnung
käme - aber als Charakterathleten hatte ich diese
Zeitgenossen niemals anerkennen können.
Wenn
das alte Weltbild zusammenbrach, wenn der Glaube an Lohn
und Strafe, an ewige Seligkeiten und Verdammnisse
für die irdische Laufbahn ins Wanken kam, musste da
nicht auch die ganze sittliche Lebensführung
zusammenbrechen?
Eine
vielgestellte und von kirchlicher Seite gar zu gern und
bequem bejahte Frage - eine Frage, die auch mich jetzt
aufs Tiefste erregen musste. Ich hatte bis dahin keinen
Anlass gehabt, über die Unterschiede in der
Sittlichkeit von Heiden, Juden und Christen nachzudenken.
Aber hatten es die Heiden, denen keine Offenbarung zu
Gebote stand, jemals schlimmer getrieben als die Juden,
von deren gottlosen Treiben jede Seite des Alten
Testaments berichtete? Oder war die Geschichte der
christlichen Völker geeignet, in ihren Auswirkungen
die Göttlichkeit des Christentums zu erweisen?
Hatten die Kriege, die Verbrechen an Leib und Leben, die
Lasterhaftigkeit und der Betrug in den Jahrhunderten der
Ausbreitung und Herrschaft des Christentums etwa
abgenommen? War der Hexen- und Teufelsglaube, waren
Inquisition und Glaubenskriege nicht ebenso viele Beweise
gegen die göttliche Leitung der christlichen
Völker? War der Hass der Konfessionen der Weg, auf
dem die Menschheit Erlösung finden
konnte?
Aber
ich brauchte ja nicht an diese traurigen Tatsachen zu
denken, wenn es sich um meine eigene Haltung handelte.
Ich brauchte kein Verbrecher zu werden, wenn ich morsche
Stützen des Glaubens wegwarf, ich konnte mich an das
Grundgebot des Christentums halten, auch wenn ich nicht
die Hoffnung auf himmlischen Lohn und die Furcht vor dem
Teufel zu Triebfedern meines Handelns machte. Achtung vor
den Rechten des Andern, Selbstachtung und Wahrhaftigkeit,
Ehr- und Pflichtgefühl - das waren Erbanlagen und
Erziehungsergebnisse, mit denen ich durch das Leben zu
kommen hoffte, auch wenn ich auf die besondere Weihe
verzichtete, die die kirchliche Hörigkeit verlieh.
Was hatte mir alle Religion in den Kämpfen meiner
jungen Jahre geholfen? Wer hatte mir in den dunklen
Fragen des Lebens, die sich mit unentrinnbarer Gewalt an
mich herandrängten, hilfreiche Hand geboten? Die die
Nächsten hätten sein müssen, wagte ich
nicht zu befragen; die Scheu vor den Eltern war
unüberwindlich. Von denen, die dauernd nur von
Sünde und Laster redeten, konnte man noch weniger
Aufklärung erwarten. Eine grenzenlose Prüderie,
eine noch grössere Geheimniskrämerei liess die
unschuldigsten Dinge als unsittlich erscheinen, oder
zwang zu unsinnigen Vermutungen, wo ein ruhiges, klares
Wort alle Zweifel zerstreut hätte. So blieb nichts
übrig als den Unflat anzuhören oder abzuwehren,
den die Wissenden zum besten gaben, und sachliche
Aufklärung da zu suchen, wo sie allenfalls noch zu
finden war. Ich weiss nicht mehr, in welchen grossen
Ferien ich zu den Bänden des Meyer´schen
Lexikons gegriffen habe, um endlich zu erfahren, was
andere längst auf anderen Wegen erfahren hatten. Wie
damals Höchstes und Tiefstes, Göttliches,
Menschliches und Allzumenschliches
durcheinanderwirbelten, wer vermöchte das in aller
Treue wiederzugeben?
Ich
war, als ich von der Schule Abschied nahm, nicht
gesonnen, auch nur einen Fingerbreit von den
Grundsätzen abzuweichen, die mir als Leitsterne
für die Zukunft vor Augen standen. Jetzt verstand
ich auch, was mir mein Vater, als ich zwölf Jahre
alt war, in das Tagebuch geschrieben hat. Es blieb die
Aufgabe, das Leben von Grund auf neu zu bauen, nachdem
die Stützen, die der Kinderglaube bot, zerbrochen
waren. Die Aufgabe konnte nur gelöst werden, wenn
ich mich der Führung der grossen Denker anvertraute,
die dem menschlichen Leben Sinn und Gesetz zu geben
wussten, ohne für sich eine überweltliche
Erleuchtung des Geistes in Anspruch zu nehmen.
Wäre
Rivola noch an der Schule gewesen, ich hätte ihn
sicherlich um seinen Rat gebeten. Was ich von Zürn
erfahren könnte, war nicht besonders
tiefgründig, philosophische Fragen lagen ihm weniger
als Literaturgeschichte. So kaufte ich mir noch in
Rastatt, als Lektüre für die Ferien, auf eigene
Faust Kants Kritik der Urteilskraft in der Reclamausgabe.
Ich glaubte wohl, dass es vor allem darauf ankomme, die
Kraft des Urteils zu kritisieren, um in die Geheimnisse
der Weltweisheit einzudringen. Hilfloser, unwissender und
zugleich vertrauensvoller ist nicht leicht ein angehender
Student der Philosophie in die Arme gesunken.