Sechstes Kapitel.

Acht Jahre Bernau.
In unseren Tagen, wo fast kein Schwarzwaldtal ohne Bahnlinie oder Autoverbindung ist und der Rundfunk das entlegenste Dorf mit Nachrichten überschüttet, mag man lächelnd lesen, wie viel Aufhebens von einem Umzug nach dem Schwarzwald in meines Vaters Erinnerungen gemacht wird. Wer die Lebensbedingungen jener Zeit kennt, wird begreifen, dass dem Sohn der obst- und fruchtreichen Ebene die Versetzung in den Hochschwarzwald mit seinen endlosen, schneereichen Wintern, mit seiner Abgeschiedenheit von allem Verkehr wie eine Verbannung erscheinen musste.

Ein baumloses, weites, hügeliges Wiesental, von bewaldeten Bergen umrahmt, die vom Feldberg her nach Südosten ziehen, das ist der Boden, auf dem die zerstreuten Höfe und Häusergruppen von Bernau errichtet sind: eine weitläufige Siedlung, die zwar zu einer einzigen Dorf- und Kirchengemeinde zusammengefasst war, der grossen Entfernungen wegen aber zwei Schulen besass. Mein Vater hatte in Bernau-Innerthal eine grosse Schülerzahl, 150 bis 170 Knaben und Mädchen in acht Schuljahren zu unterrichten. Bald kam auch noch eine Zeichenschule hinzu, in der die älteren Schüler des ganzen Dorfbezirks wöchentlich zweimal je drei Stunden im Freihandzeichnen unterwiesen wurden. Die Kinder waren durchweg brav und unverdorben, willig und von zutraulichem, offenen Wesen; so wurde es meinem Vater nicht schwer, bei Eltern und Kindern Vertrauen zu gewinnen. Das zeigte sich sehr bald auch darin, dass die wohlhabenderen Familien ihre Kinder durch Privatunterricht in einzelnen Fächern weiter fördern liessen. In den Notzeiten, von denen noch zu berichten ist, ergab sich daraus eine willkommene Nebeneinnahme, die das Durchhalten ermöglichte.

Wie überall, so war auch in Bernau der Ortspfarrer der nächste Vorgesetzte. Wie sich das Verhältnis zu ihm gestaltete, war eine Frage, von der nicht wenig abhing. Mein Vater hatte, da die Kirche und das Pfarrhaus in Bernau-Innerthal lagen, auch den Organistendienst zu versehen - doch zeigte sich bald, dass er für die vier Gulden jährlich, die das Amt eintrug, sich nicht übermässig anzustrengen brauchte. Er hatte nur am Sonntagvormittag die üblichen Gesänge zu begleiten, denn Vespern wurden keine gehalten, und auch Seelenämter gab es nicht.

Pfarrer Dold war damals schon ein alter gichtleidender Mann, der es sich so bequem wie möglich machte. Ein Hüne von Gestalt, auf der Universität ein gefürchteter Fechter, später ein schlagfertiger Seelsorger, der die jungen Burschen in Hinterzarten und Bernau eigenhändig aus dem Wirtshaus hinausprügelte, brachte er jetzt seine viele freie Zeit gern selbst im Wirtshaus zu. Seine besondere Liebe waren die Handwerksburschen. Er liess sich von ihnen berichten, was sie auf der Wanderschaft erlebt hatten und wohin sie überall gekommen waren. Wer sich als ordentlicher Mensch erwies und gut zu erzählen wusste, wurde reich beschenkt. Die gleiche Freigebigkeit erwies der Pfarrer auch den Schulkindern im Religionsunterricht. Allerdings kam er, besonders im Winter, nur selten ins Schulhaus, da ihm das Gehen Beschwerden machte. Wenn er einmal eine Stunde hielt, kümmerte er sich nicht um den Katechismus, sondern philosophierte von Gott und Welt, Himmel und Hölle nach eigenem Ermessen. Wenn ein Kind eine Antwort nach seinem Sinne traf, beschenkte er es mit einem Sechser oder Dreibätzner, aber wenn er keine kleine Münze bei sich hatte, kam es ihm auch nicht auf einen halben oder ganzen Gulden an.

Die biblische Geschichte und den Katechismus zu traktieren, blieb dem Lehrer überlassen. Die originelle Art des alten Pfarrers zog meinen Vater so an, dass er fast immer als Zuhörer blieb, wenn der Pfarrer einmal selbst den Unterricht gab. Nach beendigter Stunde pflegte sich der alte Herr im Löwen bei einem Glase Wein zu stärken. Das geschah auch beim ersten Zusammentreffen. Einer durch Boten überbrachten Aufforderung, den Unterricht zu schliessen und ihm Gesellschaft zu leisten, kam mein Vater nur mit Widerstreben nach. Als er sich wegen des vorzeitigen Schulschlusses entschuldigte, wurde er ausgelacht, und als er bei einer zweiten Gelegenheit durch einen Schüler sagen liess, er könne den Unterricht nicht aussetzen, war der Pfarrer so ärgerlich, dass er wochenlang kein Wort mit dem "jungen Eiferer" sprach. So etwas sei ihm doch noch nie passiert, bemerkte er zum Löwenwirt; das stimmte auch, da der Lehrer in Bernau-Aussertal halbe Tage lang mit dem Pfarrer im Wirtshaus sass.

Durch die Schüler wurde mein Vater allmählich auch mit den Eltern und den gesamten Bernauer Verhältnissen vertraut. Es war sein besonderer Stolz, dass er mit vorwärtsstrebenden jungen Männern einen Leseverein gründen konnte, in dem er durch Vorträge über die verschiedensten Gebiete des Wissens, ganz besonders aber über deutsche Geschichte die Mitglieder zu fördern und zu vaterländischem Denken zu erziehen suchte. Wirths Geschichte der Deutschen, v. Rottecks Geschichtsdarstellung, Dullers Deutsche Geschichte und Werke kirchengeschichtlichen Inhalts, die mein Vater damals anschaffte, habe ich später selbst noch in Händen gehabt.

Es war auch natürlich, dass mein Vater bei seiner ausgesprochenen praktischen Begabung bald einen Einblick in die Erwerbsmöglichkeiten der Bernauer Bevölkerung gewann und als Zeichenlehrer den Bedürfnissen der Schwarzwälder Hausindustrie gerecht zu werden suchte. Hier empfing er besonders von dem an der Furtwanger Uhrmacherschule tätigen Zeichenlehrer Meyerhuber reiche Anregung. Vielleicht war es ein Aufleben alter Neigungen, dass er in den ersten Bernauer Jahren auch die Holzschnitzerei erlernte. Ich besitze heute noch einen Spiegel mit einem von meinem Vater geschnitzten Eichenholzrahmen; anderes ist verloren gegangen, die Schnitzereien haben wir Buben ruiniert und verbraucht, als wir in das dazu geeignete Alter kamen.

Die Jahre 1853-1855 waren für den Schwarzwald eine traurige Zeit. Misswachs hatte im ganzen Lande Not und Niedergang der Wirtschaft herbeigeführt, ganz besonders aber hatte der Krieg zwischen Russland und den Westmächten die Schwarzwälder Industrie und den Absatz der Uhren, Holzwaren und sonstigen Erzeugnisse lahmgelegt, von deren Herstellung und Verkauf die Familien lebten. So gerieten die Leute in Schulden, und anstatt den Verhältnissen Rechnung zu tragen, verschärften die Behörden durch eine unsoziale Rechtspflege das Elend. Ohne Nachsicht und Aufschub wurde sofort gerichtlich vorgegangen, wenn einer dieser Unglücklichen einem hartherzigen Gläubiger Zinsen schuldig blieb oder die Steuern nicht gleich bezahlen konnte. Für wenige Gulden wurden Häuser und Güter auf dem "Vollstreckungswege" verschleudert und dem jammernden Eigentümer weggenommen, um irgendeinen Geldsack zu befriedigen. Mancher Bürgermeister wurde sogar mit Geldbussen belegt, wenn er, einsichtiger als die Regierung, mit dem Vollzug der amtlichen Verfügungen zögerte. Allmählich dämmerte es auch der Staatsregierung, dass man mit solchen wirtschaftlichen Hinrichtungen nur das Ganze schädigte; leider war es in den meisten Fällen zu spät, den Schaden wiedergutzumachen.

Meinem Vater wurde von Bernauer Freunden der Rat gegeben, er solle möglichst viel Wald ankaufen, der damals um ein Spottgeld zu haben war. Aber er hätte dazu das Geld selbst erst pumpen müssen, und solche Geschäfte waren nicht nach seinem Sinn. Zudem hatte er genug mit der eigenen Not zu tun: da die Gemeindekasse meistens leer war, bekam er sein Gehalt nur ganz unregelmässig ausbezahlt und musste froh sein, durch Privatunterricht so viel zu verdienen, dass er nicht selber in Schulden geriet.

Angespannte Lehrtätigkeit und unablässige Arbeit an der eigenen Weiterbildung halfen über die Wartezeit hinweg, die den Verlobten bei dem noch jugendlichen Alter der Braut zur Pflicht gemacht wurde. Es verstand sich von selbst, dass ein fleissiger Briefwechsel die Gemeinschaft des Fühlens und Denkens, die schon so lange bestand, immer mehr vertiefte, und dass die Ferienwochen, die mein Vater in Mahlberg zubrachte, wie ein einziger Feiertag empfunden wurden, auch wenn es in Haus und Feld den ganzen Tag zu arbeiten gab. Die Sonntage wurden meist zu kleinen Ausflügen benutzt. Im Sommer 1853 wurde auch einmal eine Fahrt nach Lahr unternommen, um dort Bilder nach dem damals üblichen Verfahren der Daguerrotypie anfertigen zu lassen. Das waren photographische Negative auf Kupferplatten, nach denen man nur schwer eine Vorstellung von den abgebildeten Personen gewinnen konnte. Ich habe lange nicht gewusst, dass die sonderbaren kleinen Bilder, die an der Wand hingen, meine Eltern darstellten. Das Bild meiner Mutter ist leider so zerstört, dass ich keine photographische Kopie davon herstellen lassen konnte, das Bild meines Vaters habe ich retten können. Man sieht einen typischen Bauernkopf, wie ihn Thoma gemalt haben könnte, mit hoher Stirn, ernstem Blick, den Bart ausrasiert, die Lippen streng geschlossen. Von der Gewalt der dunklen Augen und der Kraft des ganzen Wesens gibt das Bild keine Vorstellung.

Am 8. April 1854 wurde Valentin Ruska, mein Grossvater, von einer Lungenentzündung nach wenigen Tagen Krankseins hingerafft. Mein Vater erzählt, dass er um die gleiche Zeit, als er in Bernau mit dem Waldaufseher im Gemeindewald bei tiefem Schnee eine Besichtigung des Schulholzes vornahm, plötzlich von einer unerklärlichen Angst um seinen Vater ergriffen worden sei. Der Begleiter suchte ihm seine Besorgnis auszureden, aber als mein Vater nach Hause kam, war der Brief mit der Todesnachricht da. Mein Vater eilte noch in der Nacht über Todtnau und Oberried nach Freiburg, in der Hoffnung, wenigstens zum Begräbnis rechtzeitig eintreffen zu können. Er kam auch dafür zu spät und fand nur den frischen Grabhügel und die trostlose Mutter vor.

Die Schwestern Marianne und Josefine waren damals längst verheiratet, die ältere mit dem Landwirt Merzweiler, die jüngere mit Leopold Schwab, einem von 7 Brüdern, die die "sieben Schwaben" hiessen und im Dorf wegen ihres Fleisses allgemein geachtet waren. Er betrieb neben der Landwirtschaft noch die Weberei und übernahm jetzt das Haus. Die Grossmutter blieb wohnen, da sie sich bei der jüngeren Tochter wohlaufgehoben wusste. Im Spätjahr 1855 liess sie sich auf dringenden Wunsch des Sohnes zur Übersiedlung nach Bernau bewegen, um ihm dort bis zur Gründung des eigenen Hausstands den Haushalt zu führen. Sie konnte aber in der fremden Umgebung nicht heimisch werden und bleib nur ein Jahr auf dem Scharzwald.

In den Pfingsttagen 1856, als die Mutter Ruska noch in Bernau weilte, durfte die Braut endlich mit der Schwägerin Marianne einen Besuch in Bernau machen. Im Spätjahr sollte Hochzeit sein, und der Bräutigam wollte seinen Schatz doch einmal mit dem künftigen Wohnsitz und mit befreundeten Familien bekannt machen. Die Tage gingen wie im Fluge vorüber. Der Willkomm bei den Bernauern war überall gleich herzlich und das Schwarzwälder Alemannisch klang dem Mahlberger Kind so anheimelnd, als wenn's dort aufgewachsen wäre. Beschwerlich war nur die Art der Begrüssung, denn wo man hinkam, wurde man mit Speis und Trank bewirtet, und es wäre ein arger Verstoss gegen die Etikette gewesen, die Gaben abzulehnen. Hier setzte man den Gästen Wein, Brot und Butter vor, dort Milch und Brot oder den Rest des Mittagessens mit Sauerkraut und Speck, anderswo Kaffee mit Gugelhupf oder was gerade zur Hand war. Auch beim alten Pfarrer Dold musste die Braut Besuch machen, als er von ihrer Ankunft hörte. Er hatte eine grosse Freude an der munteren Art, in der sie seine Scherze erwiderte. Auch die Geschichte ihrer Liebe musste sie ihm erzählen, und er war davon so ergriffen, dass ihm die Tränen über die Wangen liefen.

Im Juli 1856 erkrankte der Bruder Max, damals Gärtnerlehrling in Lahr, so schwer an Typhus, dass er nach Hause gebracht werden musste. Nach wochenlangem qualvollen Leiden starb er trotz der aufopfernden Pflege der Schwester, deren besonderer Liebling er gewesen war. Tag und Nacht sass sie am Krankenbett des Bruders und musste doch den liebsten Gespielen sterben sehen. Dann wurde der Vater krank, und schliesslich brach sie selbst unter all den Anstrengungen und Aufregungen der Pflege zusammen.

Die Nachricht von der Erkrankung der Braut traf meinen Vater ins innerste Mark. So rasch es nur möglich war, reiste er mit der Mutter der Heimat zu. Am Bahnhof in Orschweier wartete der Schwager Merzweiler. Er wusste nichts zu sagen, als dass das Julchen wohl sterben müsse. Verzweifelt eilte mein Vater Mahlberg zu. Die Eltern empfingen ihn mit Tränen in den Augen, sie hatten alle Hoffnung aufgegeben. Der Arzt duldete nicht, dass der Bräutigam das Krankenzimmer betrat. Er ging aber mit den Eltern ins Zimmer und lenkte das Gespräch auf den geliebten Mann: ob die Kranke wohl seinen Besuch wünsche. Er sah, wie die Sonne aus den müden Augen brach, und nun schien der Augenblick gekommen, wo mein Vater eintreten durfte. Es war, als ob sein Erscheinen den Tod vom Krankenbett gescheucht hätte, als ob die entfliehende Seele sich noch einmal an das Leben festklammerte. Mein Vater wich nicht mehr vom Krankenlager seiner Braut; er sah mit Seligkeit die langsame Wiederkehr der Kräfte, den unendlichen Dank in den Blicken der Genesenden. Als er wieder nach Bernau zurück musste, konnte Julchen schon täglich eine Stunde ausserhalb des Betts zubringen; um Neujahr erhielt mein Vater die Nachricht von ihrer vollen Gesundung.

So kam nun endlich auch die Zeit heran, wo mein Vater die geliebte Braut heimführen durfte. Die Hochzeit wurde Pfingsten 1857 im engsten Kreise gefeiert; nur die nächsten Verwandten und Dekan Steiger als alter gemeinsamer Freund waren als Gäste zugegen. Wer etwas von der Innigkeit dieses auf reinster, vertrauender Liebe gegründeten Bundes zweier hochstehender Menschen mitfühlen kann, bedarf keiner Einzelheiten aus den meiner Mutter geweihten Erinnerungen.

Der Abschied von den über alles geliebten Eltern war schwer, aber die Neuvermählten wussten ja, dass sie in den nächsten Ferien gemeinsam zurückkehren würden. Man fuhr mit dem Wagen nach Dinglingen und von da mit dem Schnellzug über Basel nach Waldshut; dann wurde der Postomnibus nach Höchenschwand und nach St. Blasien zur Weiterfahrt benützt. In St. Blasien kam man um 5 Uhr abends an, und es wäre nach Besichtigung des Klosters mit seiner herrlichen Kuppelkirche noch reichlich Zeit gewesen, Bernau zu erreichen. Die Führer des von Bernau entgegengesandten Wagens erklärten aber, sie hätten gemessenen Befehl, das junge Paar erst am anderen Tag nach Bernau zu bringen. Die Reisenden erklärten, dass sie dann lieber zu Fuss nach Bernau gehen wollten. Aber der Wirt, bei dem man eingekehrt war, weigerte sich, die Rechnung zu schreiben und das Handgepäck herauszugeben. Man sah, dass er mit in das Komplott verwickelt war, und es blieb nichts übrig, als sich der Gewalt zu fügen. Am andern Tag wurde klar, was das alles zu bedeuten hatte. Als der Wagen auf der Höhe angekommen war, wo sich das Tal von Bernau öffnet, hörten die Reisenden Böllerschüsse, so dass sie sich verwundert fragten, was denn da für in Fest gefeiert würde. Als das Salutschiessen im Innerthal erst recht einsetzte, da ging ihnen allmählich ein Licht auf. Am Eingang von Bernau war eine Ehrenpforte errichtet, die dem jungen Paar ein freundliches Willkomm bot. Der Weg von da bis zum Schulhaus war mit jungen Tannen besetzt, das Schulhaus selbst prangte im Schmuck zahlreicher Kränze, und über der Haustür war ein zweiter Willkommensgruss angebracht. Eine Menge von Menschen war beim Schulhaus versammelt, um die Angekommenen zu begrüssen und zu beglückwünschen. der feierliche Empfang sollte nicht nur der jungen Frau gelten, die sich schon beim ersten Besuch die Herzen gewonnen hatte, er sollte ihr auch sagen, wie hoch man den Lehrer in der Gemeinde schätzte.

Ich muss vieles übergehen, was die Aufzeichnungen meines Vaters über das neue Leben in Bernau enthalten. Von meiner Mutter werde ich auch noch erzählen können, wenn ich an die Zeit komme, da ich ihr kleiner Sohn und nachmals grosser Student war. Nur über echt schwarzwälderische Dinge, die uns Heutigen wie ein Märchen aus alten Zeiten klingen, möchte ich noch einige Wort sagen.

Man hatte, beschenkt mit allem, was der elterliche Garten bieten konnte, am Ende der Oktoberferien wieder den Weg nach Bernau angetreten. Jetzt galt es, dem ersten Schwarzwaldwinter zu trotzen. Es fing sehr bald zu schneien an, und die Schneedecke verschwand monatelang nicht mehr. Man zog sich aus dem grossen Wohnzimmer in ein trauliches Stübchen zurück, das leichter zu heizen war. Während die junge Frau spann, las mein Vater vor - manchmal war es auch umgekehrt. Die jungen Leute hatten sich eine grosse Menge Hanf kommen lassen, die in den langen Winterabenden versponnen werden sollte, um einen möglichst grossen Vorrat von Weisszeug zusammen zu bringen. Mein Vater hatte von zu Hause nicht weniger als fünfzig "Hemmeter" mitbekommen. Nun sollten die Schränke erst recht mit Leinwand gefüllt werden. Die Freude war gross, als die junge Hausfrau den ersten Ballen Leinwand zurückerhielt und nun zu allen möglichen Zwecken verarbeiten konnte.

Man wird sich über die Aufspeicherungen von so grossen Wäschevorräten wundern, aber sie entsprach ganz den alten Sitten und Verhältnissen. Damals war das Land zwischen Kaiserstuhl und Offenburg ein Hauptgebiet des badischen Hanfbaues. An den Anbau knüpfte sich eine ausgedehnte Hausindustrie zur Anfertigung von Hanfgarnen. Die Garne wurden auf grossen Märkten in Ettenheim und Lahr oder in den Dörfern selbst von den Webern und von Garnjuden, die besonders aus Strassburg kamen, aufgekauft. Mein Vater hatte wie alle Dorfbuben auch das Spinnen gelernt und fleissig mit helfen müssen. Meine Mutter habe ich selbst noch spinnen sehen. Auch von der Weberei habe ich als kleiner Kerl einen Begriff bekommen, als ich in Grafenhausen beim Onkel Schwab zusehen durfte, wie die Schifflein herüber und hinüber schiessen, die Fäden ungesehen fliessen, ein Schlag tausend Verbindungen schlägt.

Als endlich der Frühling ins Land gezogen kam, konnte mit der Errichtung des Gartens begonnen werden. Da war meine Mutter so recht in ihrem Element. Auch Hühner und Ziegen durften nicht fehlen, sie gehören ja zu jeder Schwarzwaldfamilie, und schliesslich kam auch noch ein Katzebusseli dazu. Das war ein so merkwürdiges Geschöpf, dass es ein Recht auf ehrenvolle Erwähnung hat. Es rechnete sich so sehr zur Familie, dass es bei Spaziergängen überall hin mitging; ja selbst in die Kirche und auf die Orgel pflegte es meinen Vater zu begleiten. In den Ferien sorgte das alte Evle, das die Schule in Ordnung zu halten hatte, für das Tierchen. Es kam aber im Spätjahr 1858, als meine Eltern länger abwesend waren, bei dem vergeblichen Suchen nach ihnen ums Leben.

Mit der Gründung des Hausstandes wurde auch ein sogenanntes Hausbuch angelegt. Es war ein ansehnlicher Quartband, den wir Buben mit heiliger Scheu betrachtet haben. Mein Vater hat das Buch bis zum Jahre 1894 fortgeführt. So knapp und trocken die Eintragungen sind, so viel sagen sie dem, der zwischen den Zeilen zu lesen versteht. Jetzt hiess es doch, zu zweien mit dem auszukommen, was vorher schon für einen zu wenig gewesen war. Der Schuldienst trug etwa 400 Gulden, die Zeichenschule brachte jährlich 50 Gulden ein, die Einnahmen aus Privatstunden schwankten um den gleichen Betrag. Das mit der Stelle verbundene Schulholz war so reichlich bemessen, dass ein grosser Teil weiter verkauft werden konnte. Pachtzinsen aus dem väterlichen Erbe brachten etwa 150 Gulden, und schliesslich gab die Verbindung mit Grafenhausen und Mahlberg auch Gelegenheit, Hanf und Wein in Bernau mit Gewinn abzusetzen. Niemand dachte daran, an solchen Nebenverdiensten Anstoss zu nehmen, es war allgemein üblich, auf diese Art die Lage zu erleichtern. Sie fielen von selbst weg, als meine Eltern die patriarchalischen Bernauer Verhältnisse mit denen der Grossstadt Bühl vertauschten.

In den ledigen Jahren hatte mein Vater auch viele Wanderungen in den Bergen unternommen. Das war damals nicht so allgemein üblich und vor allen Dingen nicht so bequem wie heute, denn man fand auf Höhenwanderungen fast nirgends Unterkunft. Eine nächtliche Besteigung des Feldbergs, die er ungeachtet aller Warnungen in leichten Sommerkleidern unternahm, hätte er fast mit Erfrieren gebüsst. Er wurde von Freunden, die vorsichtiger gewesen waren, nach der Todtnauerhütte getragen und dort mit heissem Kaffee und Kirschwasser wieder auf die Beine gebracht.

Auch mit dem Schatz unternahm er später manche genussreiche Wanderung. Als die schönste Erinnerung galt meinen Eltern eine achttägige Ferienreise im Juli 1860, die Furtwangen als Hauptziel hatte. Wie gern erzählte meine Mutter von dem wundervollen, blumenreichen Plätzchen, von wo aus sie zum ersten Mal den Titisee vor sich sah! In Hinterzarten wurde Freund Hofstetter besucht - ich habe ihn 40 Jahre später auf unserer Hochzeitsreise noch am Leben getroffen. In Furtwangen galt der Besuch dem Zeichenlehrer Meyerhuber, der in Bernau öfters der Gast der Eltern gewesen war. Er war sehr glücklich verheiratet und hatte zwei herzige Kinder, Mädchen von 6 und 4 Jahren. Meine Mutter interessierte sich mehr für die Strohflechteschule, den Vater fesselten vor allem die Einrichtungen der Uhrmacherschule, die er in allen Einzelheiten von der Giesserei und Dreherei bis zu den Modell- und Zeichensälen und den Malerwerkstätten kennenlernte.

Meine Mutter hatte sich bald in Bernau heimisch gefühlt - wie hätte das in der herrlichen Natur und unter so schlichten, freundlichen Menschen auch anders sein können! Und musste sich das Mahlberger Kind nicht wie zu Hause vorkommen, wenn ihm auch da oben die Sprache Johann Peter Hebels entgegenklang?

Aber es zeigte sich doch, dass die von der schweren Krankheit geschwächte junge Frau die harten Winter nicht gut ertrug, und so musste sich mein Vater nach einem Wirkungskreis in milderem Klima umsehen. Ein Wechsel entsprach auch den Wünschen der Schwiegereltern, die bei ihrem vorgerückten Alter die Tochter näher bei sich haben wollten. Und schliesslich hatten die in Mahlberg zugebrachten Ferien immer wieder aufs Neue die Sehnsucht nach der Heimat, nach dem schönen Frühling und den Obstgärten der Ebene erweckt.

Schon im August 1860, kurz nach der Furtwanger Reise, bot sich die gesuchte Gelegenheit. In der Stadt Bühl, die an der grossen Bahnlinie Frankfurt-Basel liegt, war die zweite Hauptlehrerstelle frei geworden. Mein Vater erhielt sie, auf Michaeli hatte er den Dienst anzutreten. Den Versuchen, ihn in Bernau zu halten, durfte er nicht nachgeben. Zum letzten Mal empfingen meine Eltern die Beweise herzlichster Zuneigung. Mein Vater hatte sich in den langen Jahren Freunde erworben, von denen er sich nur schweren Herzens trennte. Das treue Evle war untröstlich, als es sich von den Lehrersleuten verabschiedete. Meine Mutter hat Bernau nicht wiedergesehen.


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© Julius Ruska 1937