In
unseren Tagen, wo fast kein Schwarzwaldtal ohne Bahnlinie
oder Autoverbindung ist und der Rundfunk das entlegenste
Dorf mit Nachrichten überschüttet, mag man
lächelnd lesen, wie viel Aufhebens von einem Umzug
nach dem Schwarzwald in meines Vaters Erinnerungen
gemacht wird. Wer die Lebensbedingungen jener Zeit kennt,
wird begreifen, dass dem Sohn der obst- und fruchtreichen
Ebene die Versetzung in den Hochschwarzwald mit seinen
endlosen, schneereichen Wintern, mit seiner
Abgeschiedenheit von allem Verkehr wie eine Verbannung
erscheinen musste.
Ein
baumloses, weites, hügeliges Wiesental, von
bewaldeten Bergen umrahmt, die vom Feldberg her nach
Südosten ziehen, das ist der Boden, auf dem die
zerstreuten Höfe und Häusergruppen von Bernau
errichtet sind: eine weitläufige Siedlung, die zwar
zu einer einzigen Dorf- und Kirchengemeinde
zusammengefasst war, der grossen Entfernungen wegen aber
zwei Schulen besass. Mein Vater hatte in Bernau-Innerthal
eine grosse Schülerzahl, 150 bis 170 Knaben und
Mädchen in acht Schuljahren zu unterrichten. Bald
kam auch noch eine Zeichenschule hinzu, in der die
älteren Schüler des ganzen Dorfbezirks
wöchentlich zweimal je drei Stunden im
Freihandzeichnen unterwiesen wurden. Die Kinder waren
durchweg brav und unverdorben, willig und von
zutraulichem, offenen Wesen; so wurde es meinem Vater
nicht schwer, bei Eltern und Kindern Vertrauen zu
gewinnen. Das zeigte sich sehr bald auch darin, dass die
wohlhabenderen Familien ihre Kinder durch
Privatunterricht in einzelnen Fächern weiter
fördern liessen. In den Notzeiten, von denen noch zu
berichten ist, ergab sich daraus eine willkommene
Nebeneinnahme, die das Durchhalten
ermöglichte.
Wie
überall, so war auch in Bernau der Ortspfarrer der
nächste Vorgesetzte. Wie sich das Verhältnis zu
ihm gestaltete, war eine Frage, von der nicht wenig
abhing. Mein Vater hatte, da die Kirche und das Pfarrhaus
in Bernau-Innerthal lagen, auch den Organistendienst zu
versehen - doch zeigte sich bald, dass er für die
vier Gulden jährlich, die das Amt eintrug, sich
nicht übermässig anzustrengen brauchte. Er
hatte nur am Sonntagvormittag die üblichen
Gesänge zu begleiten, denn Vespern wurden keine
gehalten, und auch Seelenämter gab es
nicht.
Pfarrer
Dold war damals schon ein alter gichtleidender Mann, der
es sich so bequem wie möglich machte. Ein Hüne
von Gestalt, auf der Universität ein
gefürchteter Fechter, später ein schlagfertiger
Seelsorger, der die jungen Burschen in Hinterzarten und
Bernau eigenhändig aus dem Wirtshaus
hinausprügelte, brachte er jetzt seine viele freie
Zeit gern selbst im Wirtshaus zu. Seine besondere Liebe
waren die Handwerksburschen. Er liess sich von ihnen
berichten, was sie auf der Wanderschaft erlebt hatten und
wohin sie überall gekommen waren. Wer sich als
ordentlicher Mensch erwies und gut zu erzählen
wusste, wurde reich beschenkt. Die gleiche Freigebigkeit
erwies der Pfarrer auch den Schulkindern im
Religionsunterricht. Allerdings kam er, besonders im
Winter, nur selten ins Schulhaus, da ihm das Gehen
Beschwerden machte. Wenn er einmal eine Stunde hielt,
kümmerte er sich nicht um den Katechismus, sondern
philosophierte von Gott und Welt, Himmel und Hölle
nach eigenem Ermessen. Wenn ein Kind eine Antwort nach
seinem Sinne traf, beschenkte er es mit einem Sechser
oder Dreibätzner, aber wenn er keine kleine
Münze bei sich hatte, kam es ihm auch nicht auf
einen halben oder ganzen Gulden an.
Die
biblische Geschichte und den Katechismus zu traktieren,
blieb dem Lehrer überlassen. Die originelle Art des
alten Pfarrers zog meinen Vater so an, dass er fast immer
als Zuhörer blieb, wenn der Pfarrer einmal selbst
den Unterricht gab. Nach beendigter Stunde pflegte sich
der alte Herr im Löwen bei einem Glase Wein zu
stärken. Das geschah auch beim ersten
Zusammentreffen. Einer durch Boten überbrachten
Aufforderung, den Unterricht zu schliessen und ihm
Gesellschaft zu leisten, kam mein Vater nur mit
Widerstreben nach. Als er sich wegen des vorzeitigen
Schulschlusses entschuldigte, wurde er ausgelacht, und
als er bei einer zweiten Gelegenheit durch einen
Schüler sagen liess, er könne den Unterricht
nicht aussetzen, war der Pfarrer so ärgerlich, dass
er wochenlang kein Wort mit dem "jungen Eiferer" sprach.
So etwas sei ihm doch noch nie passiert, bemerkte er zum
Löwenwirt; das stimmte auch, da der Lehrer in
Bernau-Aussertal halbe Tage lang mit dem Pfarrer im
Wirtshaus sass.
Durch
die Schüler wurde mein Vater allmählich auch
mit den Eltern und den gesamten Bernauer
Verhältnissen vertraut. Es war sein besonderer
Stolz, dass er mit vorwärtsstrebenden jungen
Männern einen Leseverein gründen konnte, in dem
er durch Vorträge über die verschiedensten
Gebiete des Wissens, ganz besonders aber über
deutsche Geschichte die Mitglieder zu fördern und zu
vaterländischem Denken zu erziehen suchte. Wirths
Geschichte der Deutschen, v. Rottecks
Geschichtsdarstellung, Dullers Deutsche Geschichte und
Werke kirchengeschichtlichen Inhalts, die mein Vater
damals anschaffte, habe ich später selbst noch in
Händen gehabt.
Es
war auch natürlich, dass mein Vater bei seiner
ausgesprochenen praktischen Begabung bald einen Einblick
in die Erwerbsmöglichkeiten der Bernauer
Bevölkerung gewann und als Zeichenlehrer den
Bedürfnissen der Schwarzwälder Hausindustrie
gerecht zu werden suchte. Hier empfing er besonders von
dem an der Furtwanger Uhrmacherschule tätigen
Zeichenlehrer Meyerhuber reiche Anregung. Vielleicht war
es ein Aufleben alter Neigungen, dass er in den ersten
Bernauer Jahren auch die Holzschnitzerei erlernte. Ich
besitze heute noch einen Spiegel mit einem von meinem
Vater geschnitzten Eichenholzrahmen; anderes ist verloren
gegangen, die Schnitzereien haben wir Buben ruiniert und
verbraucht, als wir in das dazu geeignete Alter
kamen.
Die
Jahre 1853-1855 waren für den Schwarzwald eine
traurige Zeit. Misswachs hatte im ganzen Lande Not und
Niedergang der Wirtschaft herbeigeführt, ganz
besonders aber hatte der Krieg zwischen Russland und den
Westmächten die Schwarzwälder Industrie und den
Absatz der Uhren, Holzwaren und sonstigen Erzeugnisse
lahmgelegt, von deren Herstellung und Verkauf die
Familien lebten. So gerieten die Leute in Schulden, und
anstatt den Verhältnissen Rechnung zu tragen,
verschärften die Behörden durch eine unsoziale
Rechtspflege das Elend. Ohne Nachsicht und Aufschub wurde
sofort gerichtlich vorgegangen, wenn einer dieser
Unglücklichen einem hartherzigen Gläubiger
Zinsen schuldig blieb oder die Steuern nicht gleich
bezahlen konnte. Für wenige Gulden wurden
Häuser und Güter auf dem "Vollstreckungswege"
verschleudert und dem jammernden Eigentümer
weggenommen, um irgendeinen Geldsack zu befriedigen.
Mancher Bürgermeister wurde sogar mit Geldbussen
belegt, wenn er, einsichtiger als die Regierung, mit dem
Vollzug der amtlichen Verfügungen zögerte.
Allmählich dämmerte es auch der
Staatsregierung, dass man mit solchen wirtschaftlichen
Hinrichtungen nur das Ganze schädigte; leider war es
in den meisten Fällen zu spät, den Schaden
wiedergutzumachen.
Meinem
Vater wurde von Bernauer Freunden der Rat gegeben, er
solle möglichst viel Wald ankaufen, der damals um
ein Spottgeld zu haben war. Aber er hätte dazu das
Geld selbst erst pumpen müssen, und solche
Geschäfte waren nicht nach seinem Sinn. Zudem hatte
er genug mit der eigenen Not zu tun: da die Gemeindekasse
meistens leer war, bekam er sein Gehalt nur ganz
unregelmässig ausbezahlt und musste froh sein, durch
Privatunterricht so viel zu verdienen, dass er nicht
selber in Schulden geriet.
Angespannte
Lehrtätigkeit und unablässige Arbeit an der
eigenen Weiterbildung halfen über die Wartezeit
hinweg, die den Verlobten bei dem noch jugendlichen Alter
der Braut zur Pflicht gemacht wurde. Es verstand sich von
selbst, dass ein fleissiger Briefwechsel die Gemeinschaft
des Fühlens und Denkens, die schon so lange bestand,
immer mehr vertiefte, und dass die Ferienwochen, die mein
Vater in Mahlberg zubrachte, wie ein einziger Feiertag
empfunden wurden, auch wenn es in Haus und Feld den
ganzen Tag zu arbeiten gab. Die Sonntage wurden meist zu
kleinen Ausflügen benutzt. Im Sommer 1853 wurde auch
einmal eine Fahrt nach Lahr unternommen, um dort Bilder
nach dem damals üblichen Verfahren der Daguerrotypie
anfertigen zu lassen. Das waren photographische Negative
auf Kupferplatten, nach denen man nur schwer eine
Vorstellung von den abgebildeten Personen gewinnen
konnte. Ich habe lange nicht gewusst, dass die
sonderbaren kleinen Bilder, die an der Wand hingen, meine
Eltern darstellten. Das Bild meiner Mutter ist leider so
zerstört, dass ich keine photographische Kopie davon
herstellen lassen konnte, das Bild meines Vaters habe ich
retten können. Man sieht einen typischen Bauernkopf,
wie ihn Thoma gemalt haben könnte, mit hoher Stirn,
ernstem Blick, den Bart ausrasiert, die Lippen streng
geschlossen. Von der Gewalt der dunklen Augen und der
Kraft des ganzen Wesens gibt das Bild keine Vorstellung.
Am
8. April 1854 wurde Valentin Ruska, mein Grossvater, von
einer Lungenentzündung nach wenigen Tagen Krankseins
hingerafft. Mein Vater erzählt, dass er um die
gleiche Zeit, als er in Bernau mit dem Waldaufseher im
Gemeindewald bei tiefem Schnee eine Besichtigung des
Schulholzes vornahm, plötzlich von einer
unerklärlichen Angst um seinen Vater ergriffen
worden sei. Der Begleiter suchte ihm seine Besorgnis
auszureden, aber als mein Vater nach Hause kam, war der
Brief mit der Todesnachricht da. Mein Vater eilte noch in
der Nacht über Todtnau und Oberried nach Freiburg,
in der Hoffnung, wenigstens zum Begräbnis
rechtzeitig eintreffen zu können. Er kam auch
dafür zu spät und fand nur den frischen
Grabhügel und die trostlose Mutter vor.
Die
Schwestern Marianne und Josefine waren damals längst
verheiratet, die ältere mit dem Landwirt Merzweiler,
die jüngere mit Leopold Schwab, einem von 7
Brüdern, die die "sieben Schwaben" hiessen und im
Dorf wegen ihres Fleisses allgemein geachtet waren. Er
betrieb neben der Landwirtschaft noch die Weberei und
übernahm jetzt das Haus. Die Grossmutter blieb
wohnen, da sie sich bei der jüngeren Tochter
wohlaufgehoben wusste. Im Spätjahr 1855 liess sie
sich auf dringenden Wunsch des Sohnes zur
Übersiedlung nach Bernau bewegen, um ihm dort bis
zur Gründung des eigenen Hausstands den Haushalt zu
führen. Sie konnte aber in der fremden Umgebung
nicht heimisch werden und bleib nur ein Jahr auf dem
Scharzwald.
In
den Pfingsttagen 1856, als die Mutter Ruska noch in
Bernau weilte, durfte die Braut endlich mit der
Schwägerin Marianne einen Besuch in Bernau machen.
Im Spätjahr sollte Hochzeit sein, und der
Bräutigam wollte seinen Schatz doch einmal mit dem
künftigen Wohnsitz und mit befreundeten Familien
bekannt machen. Die Tage gingen wie im Fluge
vorüber. Der Willkomm bei den Bernauern war
überall gleich herzlich und das Schwarzwälder
Alemannisch klang dem Mahlberger Kind so anheimelnd, als
wenn's dort aufgewachsen wäre. Beschwerlich war nur
die Art der Begrüssung, denn wo man hinkam, wurde
man mit Speis und Trank bewirtet, und es wäre ein
arger Verstoss gegen die Etikette gewesen, die Gaben
abzulehnen. Hier setzte man den Gästen Wein, Brot
und Butter vor, dort Milch und Brot oder den Rest des
Mittagessens mit Sauerkraut und Speck, anderswo Kaffee
mit Gugelhupf oder was gerade zur Hand war. Auch beim
alten Pfarrer Dold musste die Braut Besuch machen, als er
von ihrer Ankunft hörte. Er hatte eine grosse Freude
an der munteren Art, in der sie seine Scherze erwiderte.
Auch die Geschichte ihrer Liebe musste sie ihm
erzählen, und er war davon so ergriffen, dass ihm
die Tränen über die Wangen liefen.
Im
Juli 1856 erkrankte der Bruder Max, damals
Gärtnerlehrling in Lahr, so schwer an Typhus, dass
er nach Hause gebracht werden musste. Nach wochenlangem
qualvollen Leiden starb er trotz der aufopfernden Pflege
der Schwester, deren besonderer Liebling er gewesen war.
Tag und Nacht sass sie am Krankenbett des Bruders und
musste doch den liebsten Gespielen sterben sehen. Dann
wurde der Vater krank, und schliesslich brach sie selbst
unter all den Anstrengungen und Aufregungen der Pflege
zusammen.
Die
Nachricht von der Erkrankung der Braut traf meinen Vater
ins innerste Mark. So rasch es nur möglich war,
reiste er mit der Mutter der Heimat zu. Am Bahnhof in
Orschweier wartete der Schwager Merzweiler. Er wusste
nichts zu sagen, als dass das Julchen wohl sterben
müsse. Verzweifelt eilte mein Vater Mahlberg zu. Die
Eltern empfingen ihn mit Tränen in den Augen, sie
hatten alle Hoffnung aufgegeben. Der Arzt duldete nicht,
dass der Bräutigam das Krankenzimmer betrat. Er ging
aber mit den Eltern ins Zimmer und lenkte das
Gespräch auf den geliebten Mann: ob die Kranke wohl
seinen Besuch wünsche. Er sah, wie die Sonne aus den
müden Augen brach, und nun schien der Augenblick
gekommen, wo mein Vater eintreten durfte. Es war, als ob
sein Erscheinen den Tod vom Krankenbett gescheucht
hätte, als ob die entfliehende Seele sich noch
einmal an das Leben festklammerte. Mein Vater wich nicht
mehr vom Krankenlager seiner Braut; er sah mit Seligkeit
die langsame Wiederkehr der Kräfte, den unendlichen
Dank in den Blicken der Genesenden. Als er wieder nach
Bernau zurück musste, konnte Julchen schon
täglich eine Stunde ausserhalb des Betts zubringen;
um Neujahr erhielt mein Vater die Nachricht von ihrer
vollen Gesundung.
So
kam nun endlich auch die Zeit heran, wo mein Vater die
geliebte Braut heimführen durfte. Die Hochzeit wurde
Pfingsten 1857 im engsten Kreise gefeiert; nur die
nächsten Verwandten und Dekan Steiger als alter
gemeinsamer Freund waren als Gäste zugegen. Wer
etwas von der Innigkeit dieses auf reinster, vertrauender
Liebe gegründeten Bundes zweier hochstehender
Menschen mitfühlen kann, bedarf keiner Einzelheiten
aus den meiner Mutter geweihten Erinnerungen.
Der
Abschied von den über alles geliebten Eltern war
schwer, aber die Neuvermählten wussten ja, dass sie
in den nächsten Ferien gemeinsam zurückkehren
würden. Man fuhr mit dem Wagen nach Dinglingen und
von da mit dem Schnellzug über Basel nach Waldshut;
dann wurde der Postomnibus nach Höchenschwand und
nach St. Blasien zur Weiterfahrt benützt. In St.
Blasien kam man um 5 Uhr abends an, und es wäre nach
Besichtigung des Klosters mit seiner herrlichen
Kuppelkirche noch reichlich Zeit gewesen, Bernau zu
erreichen. Die Führer des von Bernau
entgegengesandten Wagens erklärten aber, sie
hätten gemessenen Befehl, das junge Paar erst am
anderen Tag nach Bernau zu bringen. Die Reisenden
erklärten, dass sie dann lieber zu Fuss nach Bernau
gehen wollten. Aber der Wirt, bei dem man eingekehrt war,
weigerte sich, die Rechnung zu schreiben und das
Handgepäck herauszugeben. Man sah, dass er mit in
das Komplott verwickelt war, und es blieb nichts
übrig, als sich der Gewalt zu fügen. Am andern
Tag wurde klar, was das alles zu bedeuten hatte. Als der
Wagen auf der Höhe angekommen war, wo sich das Tal
von Bernau öffnet, hörten die Reisenden
Böllerschüsse, so dass sie sich verwundert
fragten, was denn da für in Fest gefeiert
würde. Als das Salutschiessen im Innerthal erst
recht einsetzte, da ging ihnen allmählich ein Licht
auf. Am Eingang von Bernau war eine Ehrenpforte
errichtet, die dem jungen Paar ein freundliches Willkomm
bot. Der Weg von da bis zum Schulhaus war mit jungen
Tannen besetzt, das Schulhaus selbst prangte im Schmuck
zahlreicher Kränze, und über der Haustür
war ein zweiter Willkommensgruss angebracht. Eine Menge
von Menschen war beim Schulhaus versammelt, um die
Angekommenen zu begrüssen und zu
beglückwünschen. der feierliche Empfang sollte
nicht nur der jungen Frau gelten, die sich schon beim
ersten Besuch die Herzen gewonnen hatte, er sollte ihr
auch sagen, wie hoch man den Lehrer in der Gemeinde
schätzte.
Ich
muss vieles übergehen, was die Aufzeichnungen meines
Vaters über das neue Leben in Bernau enthalten. Von
meiner Mutter werde ich auch noch erzählen
können, wenn ich an die Zeit komme, da ich ihr
kleiner Sohn und nachmals grosser Student war. Nur
über echt schwarzwälderische Dinge, die uns
Heutigen wie ein Märchen aus alten Zeiten klingen,
möchte ich noch einige Wort sagen.
Man
hatte, beschenkt mit allem, was der elterliche Garten
bieten konnte, am Ende der Oktoberferien wieder den Weg
nach Bernau angetreten. Jetzt galt es, dem ersten
Schwarzwaldwinter zu trotzen. Es fing sehr bald zu
schneien an, und die Schneedecke verschwand monatelang
nicht mehr. Man zog sich aus dem grossen Wohnzimmer in
ein trauliches Stübchen zurück, das leichter zu
heizen war. Während die junge Frau spann, las mein
Vater vor - manchmal war es auch umgekehrt. Die jungen
Leute hatten sich eine grosse Menge Hanf kommen lassen,
die in den langen Winterabenden versponnen werden sollte,
um einen möglichst grossen Vorrat von Weisszeug
zusammen zu bringen. Mein Vater hatte von zu Hause nicht
weniger als fünfzig "Hemmeter" mitbekommen. Nun
sollten die Schränke erst recht mit Leinwand
gefüllt werden. Die Freude war gross, als die junge
Hausfrau den ersten Ballen Leinwand zurückerhielt
und nun zu allen möglichen Zwecken verarbeiten
konnte.
Man
wird sich über die Aufspeicherungen von so grossen
Wäschevorräten wundern, aber sie entsprach ganz
den alten Sitten und Verhältnissen. Damals war das
Land zwischen Kaiserstuhl und Offenburg ein Hauptgebiet
des badischen Hanfbaues. An den Anbau knüpfte sich
eine ausgedehnte Hausindustrie zur Anfertigung von
Hanfgarnen. Die Garne wurden auf grossen Märkten in
Ettenheim und Lahr oder in den Dörfern selbst von
den Webern und von Garnjuden, die besonders aus
Strassburg kamen, aufgekauft. Mein Vater hatte wie alle
Dorfbuben auch das Spinnen gelernt und fleissig mit
helfen müssen. Meine Mutter habe ich selbst noch
spinnen sehen. Auch von der Weberei habe ich als kleiner
Kerl einen Begriff bekommen, als ich in Grafenhausen beim
Onkel Schwab zusehen durfte, wie die Schifflein
herüber und hinüber schiessen, die Fäden
ungesehen fliessen, ein Schlag tausend Verbindungen
schlägt.
Als
endlich der Frühling ins Land gezogen kam, konnte
mit der Errichtung des Gartens begonnen werden. Da war
meine Mutter so recht in ihrem Element. Auch Hühner
und Ziegen durften nicht fehlen, sie gehören ja zu
jeder Schwarzwaldfamilie, und schliesslich kam auch noch
ein Katzebusseli dazu. Das war ein so merkwürdiges
Geschöpf, dass es ein Recht auf ehrenvolle
Erwähnung hat. Es rechnete sich so sehr zur Familie,
dass es bei Spaziergängen überall hin mitging;
ja selbst in die Kirche und auf die Orgel pflegte es
meinen Vater zu begleiten. In den Ferien sorgte das alte
Evle, das die Schule in Ordnung zu halten hatte, für
das Tierchen. Es kam aber im Spätjahr 1858, als
meine Eltern länger abwesend waren, bei dem
vergeblichen Suchen nach ihnen ums Leben.
Mit
der Gründung des Hausstandes wurde auch ein
sogenanntes Hausbuch angelegt. Es war ein ansehnlicher
Quartband, den wir Buben mit heiliger Scheu betrachtet
haben. Mein Vater hat das Buch bis zum Jahre 1894
fortgeführt. So knapp und trocken die Eintragungen
sind, so viel sagen sie dem, der zwischen den Zeilen zu
lesen versteht. Jetzt hiess es doch, zu zweien mit dem
auszukommen, was vorher schon für einen zu wenig
gewesen war. Der Schuldienst trug etwa 400 Gulden, die
Zeichenschule brachte jährlich 50 Gulden ein, die
Einnahmen aus Privatstunden schwankten um den gleichen
Betrag. Das mit der Stelle verbundene Schulholz war so
reichlich bemessen, dass ein grosser Teil weiter verkauft
werden konnte. Pachtzinsen aus dem väterlichen Erbe
brachten etwa 150 Gulden, und schliesslich gab die
Verbindung mit Grafenhausen und Mahlberg auch
Gelegenheit, Hanf und Wein in Bernau mit Gewinn
abzusetzen. Niemand dachte daran, an solchen
Nebenverdiensten Anstoss zu nehmen, es war allgemein
üblich, auf diese Art die Lage zu erleichtern. Sie
fielen von selbst weg, als meine Eltern die
patriarchalischen Bernauer Verhältnisse mit denen
der Grossstadt Bühl vertauschten.
In
den ledigen Jahren hatte mein Vater auch viele
Wanderungen in den Bergen unternommen. Das war damals
nicht so allgemein üblich und vor allen Dingen nicht
so bequem wie heute, denn man fand auf
Höhenwanderungen fast nirgends Unterkunft. Eine
nächtliche Besteigung des Feldbergs, die er
ungeachtet aller Warnungen in leichten Sommerkleidern
unternahm, hätte er fast mit Erfrieren gebüsst.
Er wurde von Freunden, die vorsichtiger gewesen waren,
nach der Todtnauerhütte getragen und dort mit
heissem Kaffee und Kirschwasser wieder auf die Beine
gebracht.
Auch
mit dem Schatz unternahm er später manche
genussreiche Wanderung. Als die schönste Erinnerung
galt meinen Eltern eine achttägige Ferienreise im
Juli 1860, die Furtwangen als Hauptziel hatte. Wie gern
erzählte meine Mutter von dem wundervollen,
blumenreichen Plätzchen, von wo aus sie zum ersten
Mal den Titisee vor sich sah! In Hinterzarten wurde
Freund Hofstetter besucht - ich habe ihn 40 Jahre
später auf unserer Hochzeitsreise noch am Leben
getroffen. In Furtwangen galt der Besuch dem
Zeichenlehrer Meyerhuber, der in Bernau öfters der
Gast der Eltern gewesen war. Er war sehr glücklich
verheiratet und hatte zwei herzige Kinder, Mädchen
von 6 und 4 Jahren. Meine Mutter interessierte sich mehr
für die Strohflechteschule, den Vater fesselten vor
allem die Einrichtungen der Uhrmacherschule, die er in
allen Einzelheiten von der Giesserei und Dreherei bis zu
den Modell- und Zeichensälen und den
Malerwerkstätten kennenlernte.
Meine
Mutter hatte sich bald in Bernau heimisch gefühlt -
wie hätte das in der herrlichen Natur und unter so
schlichten, freundlichen Menschen auch anders sein
können! Und musste sich das Mahlberger Kind nicht
wie zu Hause vorkommen, wenn ihm auch da oben die Sprache
Johann Peter Hebels entgegenklang?
Aber
es zeigte sich doch, dass die von der schweren Krankheit
geschwächte junge Frau die harten Winter nicht gut
ertrug, und so musste sich mein Vater nach einem
Wirkungskreis in milderem Klima umsehen. Ein Wechsel
entsprach auch den Wünschen der Schwiegereltern, die
bei ihrem vorgerückten Alter die Tochter näher
bei sich haben wollten. Und schliesslich hatten die in
Mahlberg zugebrachten Ferien immer wieder aufs Neue die
Sehnsucht nach der Heimat, nach dem schönen
Frühling und den Obstgärten der Ebene
erweckt.
Schon
im August 1860, kurz nach der Furtwanger Reise, bot sich
die gesuchte Gelegenheit. In der Stadt Bühl, die an
der grossen Bahnlinie Frankfurt-Basel liegt, war die
zweite Hauptlehrerstelle frei geworden. Mein Vater
erhielt sie, auf Michaeli hatte er den Dienst anzutreten.
Den Versuchen, ihn in Bernau zu halten, durfte er nicht
nachgeben. Zum letzten Mal empfingen meine Eltern die
Beweise herzlichster Zuneigung. Mein Vater hatte sich in
den langen Jahren Freunde erworben, von denen er sich nur
schweren Herzens trennte. Das treue Evle war
untröstlich, als es sich von den Lehrersleuten
verabschiedete. Meine Mutter hat Bernau nicht
wiedergesehen.