Zweites Kapitel.

Jugendjahre des Vaters.
Als mein Grossvater in der Wiege strampelte, tobte sich in Frankreich die Revolution aus. Er war ein Jahr alt, als Ludwig XVI. hingerichtet wurde, zwei Jahre, als Robespierre das gleiche Schicksal ereilte. Er hatte das sechste Jahr erreicht, als Bonaparte nach Ägypten zog und neunte, als der Schmachfriede von Lunéville geschlossen wurde. Von all diesen Dingen wird er nicht viel gehört und noch weniger verstanden haben. Aber mit zwölf Jahren erlebte er aus nächster Nähe die allem Völkerrecht hohnsprechende Entführung des Herzogs von Enghien*. Der Herzog war in der Gegend wohl bekannt, da er in Ettenheim das Schloss des Kardinals Rohan bewohnte und oft durch Grafenhausen kam, wenn er mit seinem Gefolge auf die Jagd ritt.

Damals zog sich links vom Rhein, wie heute wieder, die französische Grenze hin. Auf der deutschen Seite war das Land in hundert Lappen zerstückelt, die immer wieder anderen Herren gehörten. Ein schmaler Streifen, der sich von Kappel am Rhein über Grafenhausen und Ettenheim in den Schwarzwald hineinzog, gehörte zum Bistum Strassburg. Gleich dahinter lag, mit seltsam eingebuchteten Grenzen, altbadisches Gebiet mit Mahlberg als Vorort. Die Dörfer Rust und Nonnenweier waren reichsritterschaftlich, die Stadt Lahr gehörte zu Hessen-Nassau, Hohengeroldseck bildete eine eigene Grafschaft. Das obere Kinzigtal war fürstenbergisch, im mittleren lagen die Gebiete der freien Reichsstädte Zell und Gengenbach. Die freie Reichsstadt Offenburg war rings von österreichischem Besitz umschlossen, das Hanauerland gehörte zu Hessen-Darmstadt, das Renchtal wieder zum Bistum Strassburg. Nicht viel anders sah es südlich von Ettenheim aus, wo österreichischer Besitz mit dem des Markgrafen von Baden-Durlach und geistlichen Herrschaften abwechselte.

Der Reichsdeputationshauptschluss von 1803 hatte mit diesem für alle Spitzbuben idealen Zuständen durch Aufhebung der geistlichen Herrschaften zum ersten Mal aufzuräumen versucht, natürlich nicht der Spitzbuben wegen, sondern um der Geistlichkeit die fetten Pfründen wegzunehmen.

Durch den Frieden von Pressburg wurden die vorderösterreichischen Gebiete zu Baden geschlagen, 1806 kam durch den Machtspruch Napoleons das Grossherzogtum Baden zustande. Die Landeskinder hatten die Ranghöhung durch Kriegsdienste in Spanien, Italien und Russland zu bezahlen. Um diese Zeit des allgemeinen Elends machte mein Grossvater seine Lehrzeit durch, dann ging er auf die Wanderschaft. Er hatte acht Jahre als Gesell bei einem Hof-Glasermeister in Stuttgart gearbeitet, als er wieder in das Heimatdorf zurückkehrte. Das Heimweh scheint ihn fortgetrieben zu haben, denn er war nicht dazu zu bewegen, sich in der schwäbischen Residenz selbstständig zu machen, Auch dann, als ihm von seinem Meister die Fortführung des Stuttgarter Geschäfts angeboten wurde, war er nicht mehr aus dem Dorf herauszulocken, in dem er gross geworden war.

Im Jahre 1817 schloss er mit Marianne Hödle, der Tochter eines Küfers von Endingen am Kaiserstuhl den Ehebund. Was ihrem pflichttreuen, peinlich gewissenhaften Mann an Temperament abging, ersetzte sie selber mit ihren blitzenden Augen und flinken Armen reichlich. Sie lebte in der Erinnerung meines Vaters als eine in Haus und Hof unermüdlich schaffende Frau: rasch zufassend, alles in Bewegung haltend, wenn es sein musste, auch scheltend und mit kräftiger Hand nachhelfend, aber herzensgut und leicht verzeihend, wenn der Sturm vorüber war. Sie hatte in Endingen eine gute Schule besucht, dann war sie zur Ausbildung in den Künsten des Haushalts mehrere Jahre bei einem Onkel gewesen, der zu Wurzach in Oberschwaben einen Gasthof besass. So hatte sie ein Stück Welt gesehen, und auch ein Stück Weltgeschichte war an ihr vorübergezogen. Österreichische Truppen füllten auf ihren Märschen hin und her den Ort und den Gasthof. Ein junger Offizier hielt um ihre Hand an und wurde abgewiesen. Die stolzeste Erinnerung der Kaiserstühlerin war, dass sie im Hause ihres Onkels den Kaiser Franz hatte bedienen dürfen. Nach dem Friendensschluss wird sie ins Elternhaus zurückgekehrt sein.

Schon im Jahre 1818 konnte neben der Kirche ein eigenes Haus gebaut werden. Mit einer Kunst des Sparens, wie sie nur der Bauer kennt, mit schwerer Arbeit im Handwerk und auf dem Acker kam langsam ein kleiner Wohlstand zusammen. Man konnte einen Teil des Ertrages verkaufen, eine Kuh einstellen, die Einrichtung verbessern, ein paar Gulden zurücklegen. Da die Arbeit in der Werkstatt die Zeit und Kraft des Mannes verbrauchte, blieben Haus- und Feldarbeit ganz und gar der Frau überlassen. Früh genug mussten auch die Kinder an die Arbeit gespannt werden, wenn alles bewältigt werden sollte was die wachsende Wirtschaft erforderte. Es ist nicht alles so himmlisch und poetisch auf dem Lande, wie es sich die Sommergäste vorstellen, die das Land überschwemmen, um sich dort auf die Bärenhaut zu legen.

Als besonders harte Zeiten blieben meinem Vater die Jahre in Erinnerung, wo er neben der Vorbereitung für das Seminar, die nur in den Nachtstunden bei schlechtem Licht zu erledigen war, auch jede Art von Feldarbeit zu besorgen hatte.

Es ist kein Wunder, dass die Arbeit seines Vaters und jede andere Werkstatt, die in der Nachbarschaft erreichbar war, den anstelligen Buben mehr anzog als das Gänsehüten und Kartoffelhacken. Aber ebenso natürlich war es, dass der streng auf Ordnung haltende Vater den Sohn nicht in seiner Werkstatt haben wollte. Es setzte Hiebe, wenn er dort mit Säge oder Hobel erwischt wurde. Oft genug musste sich die Mutter schützend ins Mittel legen: Warum sollte der Bub nicht lernen, wozu er so viel Lust und Liebe hatte? Die erste künstlerische Beschäftigung der sich des Glasers Ferdi mit Leidenschaft hingab, war die Tierplastik. Den dazu nötigen Dreck musste der Nachbar Hafner liefern. Ein armer Teufel, der krumme Felix, der zum Kinderhüten gebraucht wurde, weil er nicht arbeiten konnte, war der erste Lehrmeister. Bei ihm sassen die Buben halbe Tage lang unter dem Dach eines Schweinstalls und bezahlten die Rössli, die der Felix machte, mit Äpfeln oder Käs- und Butterbroten. Der Glaser-Ferdi brachte die grössten Butterbrote und hatte es am schnellsten weg, wie man Rössli macht. Bald übertraf er seinen Meister und erweiterte den Betrieb auf das übrige Gross- und Kleinvieh.

Es liegt ein leiser Klang von Bitterkeit in den Worten, die mein Vater an die Erzählung dieser Dinge knüpft:

"Wenn meine Neigung und Begabung für alle Kunst gepflegt und in geregelter Weise gefördert worden wäre, glaube ich, dass ich ein tüchtiger Bildhauer oder ähnliches hätte werden können. Auf dem Dorfe verkümmert manches Talent, das in der Stadt durch mannigfache Anregung erhalten und zur Entfaltung gebracht wird."

Später war ein anderer Lehrmeister, der Nachbar Krummholz so heisst in der Landessprache der Wagner sein besonderer Freund. In seiner Werkstatt und auf dem Arbeitsplatz vor dem Haus konnte er sich ungestraft zu schaffen machen. Er lernte mit seinen geschickten Fingern kleine Wagen bauen und war bald mit den erforderlichen Holzarbeiten vertraut. Auch als Zimmermann betätigte er sich; als der Vater im Jahre 1837 neben dem Haus noch eine Scheuer baute und der Elfjährige, der als Handlanger überall mitgeholfen hatte, aus heimlich zugerichteten Holzstäben ein Modell der Scheuer vorzeigte, konnte ihm auch sein Vater die Anerkennung nicht mehr versagen.

Ich muss nun noch des grössten Erlebnisses aus der Kinderzeit gedenken. Der kleine Ferdi durfte im Sommer 1834 die Mutter auf einer Reise zu ihrer Schwester begleiten, die im Kloster der Cisterzienserinnen zu Lichtental Priorin war. Es war ein lang gehegter Wunsch der beiden Schwestern gewesen, sich einmal wiederzusehen. Das war damals nicht so einfach zu machen wie heute. Wer nicht von einem Lastfuhrmann auf der Landstrasse mitgenommen wurde, musste mit Schusters Rappen reisen und sehen, wieviel Stunden am Tag er hinter sich brachte.

Von Grafenhausen bis nach Offenburg hatte man glücklicherweise einen Wagen benutzen können. Der Rest des Wegs musste in zwei Tagen zurückgelegt werden. Erst war die Freude gross, mit der Mutter unter den Obstbäumen der Landstrasse draufloszulaufen. Aber es war doch höchste Zeit, als man am Abend das Pfarrhaus in Achern erreichte. Der dortige Pfarrer war bis vor kurzem noch in Grafenhausen gewesen und hatte gute Nachbarschaft gehalten. Mit den Worten: "Da ist er ja, der wilde Schreier!", empfing der Pfarrer die Gäste; die Mutter musste erzählen, was alles inzwischen im Dorf passiert war.

Am zweiten Tag ging es schon langsamer vorwärts. Hinter Ottersweier, wo unter mächtigen alten Linden ein Wallfahrtskirchlein am Wege steht, wurde die erste Rast gemacht, Eine Stunde weiter, mitten in der Stadt Bühl, lud die Brücke über dem Bach zum Ausruhen ein. Von dort aus konnte man nach beiden Seiten durch die ganze Stadt hindurchsehen. Mutter und Sohn setzten sich auf die Steinbrüstung und assen sich an Wecken und Kirschen satt, die die Mutter für ein paar Kreuzer erstanden hatte. Wie viele tausendmal ist mein Vater später über diese Brücke in seine Schule gegangen! Dass er als Kind einmal hier mit seiner Mutter Kirschen gegessen hatte, ist ihm eine unauslöschliche Erinnerung geblieben.

Hinter Steinbach begann der Weg für den kleinen Kerl schwierig zu werden. Es ging nicht wie bisher auf ebener Strasse weiter. Man musste durch schattenlose Weinberge aufwärtssteigen, bis man zwischen Yburg und Fremersberg in den Wald kam. Es war für beide Wanderer ein saures Stück Arbeit, und es begann schon zu dämmern, als die Stadt Baden in Sicht kam. Am Conversationshaus war der weite Platz hell erleuchtet was man so um 1834 nannte &endash; und von eleganten Badegästen erfüllt, die einer Musikkapelle zuhörten. Am liebsten wäre der Bub hier geblieben, um bei der schönen Musik einzuschlafen, aber er musste weiterhumpeln, denn die Ankunft im Kloster war auf den Abend gemeldet.

Endlich war das Ziel erreicht. Erste Umarmungen, Tränen und Küsse der Schwestern, aufgeregte Fragen und Antworten, und bald ein tröstender Schlaf, der alle Müdigkeit vergessen liess. Am anderen Morgen wurden Mutter und Sohn auch von der Äbtissin begrüsst, die wie die Priorin eine Endinger Verwandte war. Zwei Wochen dauerte der Besuch in dem gastfreundlichen Kloster, für das Büblein eine unendliche Zeit. Im Besitz einer kleinen Geige, die ihm die geistliche Tante geschenkt hatte, und mit Papier, Farben und Heiligenbildern reichlich versehen, trat es als künftiger Geigenvirtuos und Maler mit der Mutter den Heimweg an. Kein Weltreisender konnte von der Wichtigkeit seiner Entdeckungen mehr durchdrungen sein; auch für die Grafenhausener Kameradschaft war es ein grosses Ereignis, als der Glaser-Ferdi wieder zurück war und von seinen Erlebnissen bei den Klosterfrauen und Klosterkühen berichtete.

Als die Reise unternommen wurde, hatte er schon eine zeitlang auf der Schulbank gesessen. Es war nicht ganz einfach gewesen, den wilden Schreier zu bändigen. Er hatte nur zu oft vom benachbarten Schulhaus her die Buben heulen hören. So suchte er sich an dem kritischen Tag, wo er dem Lehrer übergeben werden sollte, durch die Flucht in ein sicheres Versteck zu retten. Von der Mutter entdeckt und gründlich gewaschen, wurde er unter verzweifeltem Widerstand abgeliefert. Der Lehrer war ein guter Freund des Vaters und verstand sich auf solche Fälle. Als der Trotzkopf sah, dass er mit dem Leben davongekommen war, schwand auch das Misstrauen. Was er zu lernen hatte, machte ihm keine Schwierigkeiten. Die Hiebe, die es für Bubenstreiche absetzte, wurden als verdient empfunden. Es war immer noch ein Glück, wenn von der raschen Hand der Mutter oder der schweren des Vaters keine erweiterte und verbesserte Auflage nachfolgte.

Allmählich, um die Mitte der Schulzeit trat an die massgebenden Mächte auch die Frage heran, was aus dem Jüngling werden solle. Die Abneigung des Vaters gegen die praktischen Künste seines Sohnes habe ich schon erwähnt. Sicher war es nicht die Angst, der Bub könnte sich in die Finger schneiden. Aber er sollte nun einmal kein Handwerk lernen. Es ist mir nicht klar, was der letzte Grund dieses Widerstands gewesen ist. Gewiss nicht ein falscher Ehrgeiz, denn der Beruf, zu dem der Sohn schliesslich bestimmt wurde, war nichts weniger als verlockend. Es müssen schwere, trübe Erfahrungen der eigenen Lehrlings- und Gesellenzeit gewesen sein, die den Mann bedrückten; so mag er entschlossen gewesen sein, seinem Sohn ähnliches zu ersparen. Vielleicht wollte er ihm auch ein sichereres Brot verschaffen, als es die Ausübung eines Handwerks in einem kleinen Dorf gewähren konnte. Die Zeit der Freiheit war vorbei, als die Entscheidung fiel, dass der Elfjährige zur Aufnahme in das Lehrerseminar vorbereitet werden sollte. An den Besuch eines Gymnasiums oder gar ein Studium war nicht zu denken, wenn auch zum geistlichen Beruf durch Stipendien der Weg hätte geebnet werden können. Aber in dieser Richtung einen Druck ausüben, widerstrebte wohl dem Pfarrer. So übernahm er's um Gottes Lohn, den Kandidaten in allen Dingen zu unterrichten, die er für die Aufnahme in das Seminar wissen musste. Was der unvergessliche Mann für meinen Vater in jungen Jahren gewesen ist, möchte ich ihn selber berichten lassen.

"Dekan Steiger übernahm meine Vorbereitung für das Seminar. Er tat dies ohne jede Vergütung und unter Aufopferung seiner freien Zeit in vier bis sechs Stunden wöchentlich fünf Jahre lang. Er gab mir Klavier- und Gesangunterricht und Stunden in allen Fächern, die für die Aufnahme in Frage kamen, im Deutschen, Französischen und Lateinischen, in Geometrie, Geschichte und Zeichnen. Er war in allen diesen Fächern erfahren, ein begeisterter Lehrer und rechter Kinderfreund. So lange ich noch die Schule besuchte, kam er täglich, besonders vormittags, und erteilte den Unterricht an Stelle des Lehrers. Dieser brauchte erst wieder zu erscheinen, wenn der Pfarrer fertig war. Steiger besass eine ausgesprochene Lehrgabe und wusste uns alles auf einfache Weise klar zu machen. Ganz besonders freuten wir uns aber, wenn er Spaziergänge mit uns machte, denn es gab allerhand Spiele und Spässe und häufig eine Bewirtung, die er aus eigener Tasche bezahlte. Im Winter veranstaltete er Schneeballschlachten, an denen er sich selber mit Eifer beteiligte. Dass auch er sein gemessenes Anteil abbekam, dafür sorgten wir schon.

Es war eine Anerkennung, die der Dekan wohl verdient hatte, dass er bald zum Schulvisitator des Amts Ettenheim ernannt wurde. Er war von wessenbergischem Geiste beseelt und von einer Freiheit und Weitherzigkeit des Denkens, wie sie heute, in der Zeit der kirchlichen Verhetzung, nirgends mehr zu finden ist; ein Mann werktätiger Nächstenliebe und ein Förderer des praktischen Christentums, ein Feind aller, die die Religion im Munde führen, in ihren Handlungen aber das Gegenteil von Religion beweisen. Gegen kirchliche Missbräuche, die aus den romanischen Ländern herübergekommen waren, kämpfte er mit weiser Vorsicht, um seine Pfarrkinder zu geläuterten Überzeugungen zu führen. Freilich hatte er mit der Beschränktheit und dem Aberglauben der Bauern auch manchen Kampf zu bestehen.

Seine Wohltätigkeit hatte keine Grenzen. Er gab alles her, was er bei seiner einfachen Lebensweise erübrigen konnte, und sandte Kranken und Genesenden wochenlang Wein und Stärkung. Das ganze Jahr hindurch hatte er Besuche von Studienfreunden und jungen Studenten, denen er durch seine Unterstützung zu Brot und Amt verhalf. Über diese persönliche Hilfstätigkeit hinaus wirkte er aber auch noch auf vielen anderen Gebieten, in der Gemeindeverwaltung, der Krankenpflege, der Verschönerung des Dorfs und der Förderung der Landwirtschaft zum Wohl der Gemeinde. Er hatte es redlich verdient, als ihm für seine segensreiche Tätigkeit vom Grossherzog Leopold der Orden vom Zähriger Löwen verliehen wurde."



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© Julius Ruska 1937