Es
war im Herbst 1903, zu Beginn des Schuljahrs, als mir der
Direktor Wittmann bei einem Spaziergang erzählte,
dass er mit seinen Primanern gern ein geeignetes
philosophisches Werk lesen würde. Leider fehle es
bis jetzt an Schulausgaben und er werde seinen Plan wohl
nur verwirklichen können, wenn er selbst einen
solchen Text herausgebe, oder jemanden finde, der diese
Arbeit übernehmen wolle. Ob ich nicht Lust
hätte, mir einmal Lockes "Versuch über den
menschlichen Verstand" anzusehen? Es müsse sich doch
in Bändchen daraus zusammenstellen lassen, das die
Hauptgedanken in einigermassen zusammenhängender
Form wiedergebe.
Ich
war nicht abgeneigt, das Abenteuer zu wagen. Nachdem ich
den Stoff in dem erforderlichen Umfang gesichtet und
zusammengestellt hatte, arbeitete ich für die ersten
Abschnitte auch gleich die Anmerkungen aus. Der Direktor
war mit Auswahl und Anmerkungen einverstanden und so
konnte ich die Arbeit allein zu Ende führen. Es
fragte sich nur noch, wer das Büchlein drucken
sollte. Auch dafür wusste der Direktor Rat. Er hatte
den jungen und tatkräftigen Inhaber von C. Winter's
Universitätsbuchhandlung, Otto Winter, für die
Sache interessiert, und ich konnte ohne lange
Verhandlungen mit ihm einig werden.
Mit
der Ausgabe eines einzelnen Bändchens, war nun
freilich noch nicht viel erreicht. Wenn der Gedanke, den
Primanern philosophische, kulturgeschichtliche und
naturwissenschaftliche Autoren in die Hand zu geben auch
anderwärts Wurzel schlagen sollte, musste den
Schulen eine grössere Auswahl von Texten zu Gebot
stehen. Auch das Französische musste in den Kreis
der Sammlung einbezogen werden. Und es war
unerlässlich, für diese keineswegs
populäre Forderung einer Erweiterung des
Lektürestoffs auch grundsätzlich in die
Schranken zu treten.
Die
Lehrerschaft war damals in zwei feindliche Lager
gespalten. Die ältere Generation hielt mehr oder
weniger an einer Methode fest, die man als die
grammatische bezeichnen konnte, und die im Gymnasium der
an den alten Sprachen geübten Lehrweise glich. Die
Reformer hatten entdeckt, dass man Sprachen eigentlich
nur lerne, um sie zu sprechen, und wollten den ganzen
Unterricht auf eine Nachahmung der Erlernung der
Muttersprache gründen. So sehr man anerkennen
musste, dass für die Anfängerkurse ein frischer
Zug in den Unterricht kann, so bedenklich war die
Trivialisierung der Lernziele für die Oberklassen,
Daran, dass dem sogenannten neusprachlichen Anstalten
durch die Verleihung gleicher Rechte ganz neue Pflichten
erwachsen waren, und dass die Ziele des Unterrichts einer
gründlichen Nachprüfung bedurften, dachte
überhaupt noch kaum Jemand.
Um
sich über die Ziele der extremen Reform zu
unterrichten, brauchte man nur die Jahrgänge von W.
Vietor herausgegebenen Zeitschrift "Die Neueren Sprachen"
durchzusehen. Die Vertreter der humanistischen
Bildungsziele hatten seit 1902 in der von den
Königsberger Professoren Kaluza, Koschwitz und
Thurau begründeten Zeitschrift für
französischen und englischen Unterricht ein
Kampforgan erhalten. Koschwitz rechnete schon im ersten
Band in einer grossen Abhandlung1)
mit den Unbesonnenheiten und dem Banausentum der Reformer
so gründlich ab und legte die Bildungsaufgaben der
neueren Sprachen so überzeugend dar, dass schon
dadurch den masslosen Ansprüchen der Gegenseite ein
Halt geboten war. Aber ich brauchte nicht Berge von
Literatur durchzuarbeiten, um über
Unterrichtsmethoden zu einem Urteil zu kommen; dazu
genügte gesunder Menschenverstand und die eigene
Spracherfahrung.
Was
mir noch fehlte, war ein Einblick in das Treiben auf dem
Neuphilologentag. Es reizte mich, unerkannt einmal an
einer solchen Veranstaltung teilzunehmen und die grossen
Männer der Reform mit eigenen Augen zu sehen. Dazu
bot die Kölner Versammlung zu Pfingsten 1904 die
nächste Gelegenheit. Der Besuch der Tagung hatte
für mich noch den besonderen Reiz, dass ein
badischer Oberschulrat einen Vortrag über die Frage
angekündigt hatte, wie die neusprachlichen Schulen
eine Allgemeinbildung vermitteln könnten, die der
des Gymnasiums gleichwertig sei.
Seit
meiner ersten Rheinreise waren zwanzig Jahre vergangen.
Welche Stürme von Empfindungen und Erinnerungen
drängten sich aus der Tiefe herauf, als ich nun zum
zweiten Mal die herrliche Fahrt antrat! Und wie leid tat
es mir, dass meine liebe Frau die schönen Tage nicht
mitgeniessen konnte! Aber es war unmöglich, vier
Kinder allein zu lassen. Der kleine Walter, der seit vier
Wochen im Korbwagen strampelte, hätte das sicher
sehr übel genommen.
Der
Glanz jener Pfingsttage, die übermütige
Stimmung, die mich während der ganzen Verhandlung
nicht verliess, die auch in dem Bericht, den ich für
unsere Schulblätter schrieb, überall
durchbricht, ist mir noch so gegenwärtig, als
lägen nur drei, nicht dreissig Jahre zwischen damals
und heute. Die Herzlichkeit des Empfangs, die
rheinisch-frohe Laune, die dem Fremden überall
entgegenschlug, gab der Versammlung etwas von einem
Familienfest. Da ich mir nur die schulpolitischen
Vorträge anhören wollte, blieb Zeit genug, der
Stadt und dem Dom einige Stunden zu widmen, einen
Nachmittag in dem berühmten Tiergarten zuzubringen,
und für einen Tag nach Düssel zu fahren, wo
eine grosse Kunstausstellung und eine
Gartenbau-Ausstellung zum Besuche einluden.
Die
erste allgemeine Sitzung wurde durch eine Rede des
Regierungsrats Dunker vom Preussischen Ministerium
für Handel und Gewerbe eröffnet. Auch das
Kriegsministerium hatte einen Vertreter geschickt. Nur
das Unterrichtsministerium glänzte durch
Abwesenheit. Das sah nicht gerade wie ein Vertrauensvotum
für die Neuphilologen aus.
Dunker
forderte, dass sich die Neuphilologen nicht auf das
Sprachstudium beschränken, sondern auch die
geschichtliche Entwicklung der englischen und
französischen Rasse gründlich studieren
sollten. Der Vertreter des Badischen Oberschulrats
hätte Gelegenheit gehabt, im Anschluss an diese Rede
die ganze innere Dürftigkeit des neuphilologischen
Studiums klarzulegen und seine Anpassung an das
umfassende Studienprogramm der klassischen Philologen zu
fordern. - Dass davon letzten Endes die Anerkennung der
kulturellen Gleichwertigkeit der neueren Philologie und
der von ihr beherrschten Schulen abhing, war dem
Zögling des grossen Wendt offenbar noch nicht zum
Bewusstsein gekommen. Er war nur erschienen, um die These
zu verteidigen, dass die Oberrealschulen auch das von der
Reform verpönte Übersetzen in die Muttersprache
pflegen müssten, wenn sie als Bildungsschulen
anerkannt werden wollten.
Der
nächste Redner, schultechnischer Mitarbeiter am
Provinzial-Schulkollegium in Berlin, stellte fest, dass
auch die Kreise, die für die Reform eingetreten
seien, eine gewisse Mutlosigkeit ergriffen habe, und dass
trotz aller Siegeszuversicht der Massen ein Mangel an
Vertrauen zum eigenen Werk bestehe. Die Führer, die
mit unverwüstlicher Kraft und vom Glück
begünstigt vorwärts stürmten, wüssten
nichts von dem quälenden Widerstreit zwischen Wollen
und Können, den alle anderen empfänden. Es sei
unmöglich, dass ein durchschnittlich veranlagter
Mensch mehrere lebende Sprachen so vollkommen beherrsche,
wie es die Reformer verlangten. Die Lehrbefähigung
für Französisch und Englisch müsse
grundsätzlich getrennt werden, wenn man nicht auf
jede tüchtige Leistung verzichten wolle. Die zweite
Hauptsitzung eröffnete Direktor Walter, der
wortgewaltige Führer der Reform mit einem Vortrag
über den Gebrauch der Fremdsprache bei der
Lektüre in den Oberklassen. Auf seiner Schule werde
alles in der fremden Sprache erklärt und
wiedererzählt, die Schüler müssten sich
völlig frei in der Sprache bewegen; nur bei Texten,
die in ein höheres Gebiet führten, würden
auch Musterübersetzungen gefordert.
Der
zweite Redner, Oberlehrer Dr. Löwisch, verlangte vom
neusprachlichen Unterricht, dass er durch Lektüre
und freien Sachunterricht ein erschöpfendes Bild von
England und Frankreich gäbe. Sprachgeschichte,
Kunstgeschichte, Philosophie und wissenschaftliche Prosa
seien auszuschliessen, um für die Politik und
Wirtschaftsgeschichte Raum zu schaffen. Gesetzgebung,
Verwaltung, Heer und Flotte, Post und Eisenbahn,
Industrie und Handel, Versicherungswesen und
Finanzwirtschaft müssten in der Schule gelehrt
werden. Der Neuphilologe müsse seine ganze
Privatlektüre in den Dienst dieser hohen Aufgabe
stellen. Nur dadurch werde man nach Form und Inhalt eine
der klassischen ähnlichen Allgemeinbildung
erzielen.
Es
war ein Glück, dass nach den beiden
Überreformern noch ein Redner zu Wort kam, der die
Aussprache wieder auf den Boden des allgemein
Möglichen zurückführte.
Oberrealschuldirektor Unruh aus Breslau hatte den Auftrag
übernommen, über einen organisch
zusammenhängenden Lektüreplan zu berichten, der
dem französischen und englischen Unterricht der
lateinlossen Anstalten zu Grunde gelegt werden sollte. Er
wies auf die Gefahr hin, dass das Niveau der Lektüre
mehr und mehr herabgedrückt würde, wenn der
Gebrauch der Fremdsprache auch aus der Oberstufe als das
höchste Ziel erklärt würde. Die
Schüler würden dann nicht erfahren, dass
Frankreich und England auch grosse Geister hervorgebracht
hätten.
Nun
hatte ich von Reform und Anti-Reform genug gehört.
Es war kein erfreuliches Schauspiel, wie die Geister in
der Diskussion aufeinanderplatzten. Leite vom Schlage
Kinghardts und Dörrs konnten meiner Auffassung von
den Zielen des Unterrichts wirklich nicht gefährlich
werden. Es war nur notwendig, vor aller Welt dafür
einzutreten. Die Gelegenheit war leicht gefunden, nachdem
ich wegen einer Äusserung über meinen
Kölner Bericht mit Prof. Kaluza in Briefwechsel
gekommen war. Ich entwickelte meine Ansichten in einem
Aufsatz über den neusprachlichen Unterricht an den
Oberrealschulen, der im Frühjahr 1905 in der
Königsberger Zeitschrift zum Abdruck kam. Die
Herausgeber wussten nicht, dass hier ein ausserhalb der
Zunft Stehender das Wort ergriff, und von den badischen
Kollegen hatte keiner Anlass, das Geheimnis zu
lüften. Nur wenige sahen und verstanden die kleinen
Bosheiten, die schon in meinem Kölner Bericht und
nun auch in dem programmatischen Aufsatz versteckt
waren.
Im
folgenden Jahr veröffentlichte ich die Abhandlung
"Über den Anteil der Neueren Philologie am Ausbau
des modernen Bildungsideals". Sie erörterte unter
weitester Berücksichtigung der für eine moderne
Schule wichtigen Lehrinhalte die Frage, welche Leistungen
von der neueren Philologie zu fordern seien, wenn sie das
Erbe der klassischen Philologie antreten
wolle:
"Innerliche
Geistesbildung gedeiht nicht im Lärm der Gassen und
des 'flutenden Gegenwartslebens', sie wächst in der
Stille und zieht ihre Nahrung aus den grossen
Schriftstellern, die den wechselnden Launen modischer
Beurteilung weit genug entrückt sind. Historischer
und philosophischer Sinn entwickelt sich nicht an der
Zeitungslektüre oder an Darstellungen jüngst
vergangener Ereignisse, sondern durch die Vertiefung in
die Werke derer, die den einzelnen Epochen den Stempel
ihres Geistes aufgeprägt haben. Wie man am Gymnasium
immer wieder auf die Quellen der alten Philosophie und
Geschichtsschreibung, zu den griechischen Evangelien und
zur hebräischen Bibel zurückgeht, so muss die
neuere Philologie an den Oberrealschulen zu den
Grundlagen des modernen Denkens zurückführen,
wenn sie sich nicht den Vorwurf der Unzulänglichkeit
gegenüber den höchsten Aufgaben des Unterrichts
zuziehen will.
Die
Neigung, immer wieder mit Neuestem aus Frankreich und
England aufzuwarten und Dinge breitzutreten, die auch
jeder Handlungsreisende sieht, der nach London oder Paris
fährt, die aber für die Geistesbildung unserer
deutschen Jugend völlig gleichgültig und
wertlos sind, ist nicht weit genug verbreitet und
führt zu höchst seltsamen Erscheinungen. Diese
Äusserlichkeiten, die man aus England und Frankreich
importiert, gelten noch vielfach als besondere Würze
und Empfehlung des neusprachlichen Unterrichts. Kann man
sich da wundern, wenn Männer, die zwar vielleicht
nie den Boden Englands oder Frankreich betreten haben und
weder die Pariser Sitten, noch das Londoner Strassenleben
aus eigener Erfahrung kenne, dafür aber an der
dichterischen, wissenschaftlichen und philosophischen
Literatur der Engländer und Franzosen lebhaftesten
Anteil nehmen, für diese Fremdenführerbildung
nur ein ironisches Lächeln übrig
haben?"
Inzwischen
hatte ich noch zwei neue englische Bändchen,
Auszüge aus Shaftesburys "On Virtue and Merit" und
Spencers "First Principals" herausgegeben, auch waren
schon Verhandlungen mit anderen Schulmännern und
Fachleuten angeknüpft, um die Sammlung zu erweitern.
Es hatte sich ein lebhafter Briefwechsel mit Freunden
meiner Bestrebungen entwickelt, ich war selber
Führer einer Schar von Neuphilologen geworden. Es
gab kein Zurück mehr, ich musste den aufgenommenen
Kampf weiterführen.
Kaluza
bat mich, für die Königsberger Zeitschrift
über die Verhandlungen des nächsten, in
München zusammentretenden Neuphilologentags zu
berichten. Ich sagte mit Vergnügen zu; diesmal
konnte ich diese Reise mit meiner Frau gemeinsam
unternehmen. Die Münchener Stimmung gab der in
Köln nichts nach. Von den Vorträgen und
Debatten, deren Schärfe bisweilen die Grenzen des
Erträglichen überschritt, will ich hier nicht
weiter sprechen. Ich erlebte die Genugtuung, dass H.
Schneegans, der Vertreter der romanischen Philologie in
Würzburg, auf meinen letzten Aufsatz mit Nachdruck
hinwies, und sich mit meinen Forderungen völlig
einverstanden erklärte. Jetzt war auch der Weg frei
zur Anknüpfung persönlicher Beziehung. Es wagte
niemand zu fragen, woher ich denn das Recht zum Mitreden
hätte!
Den
neuen Jahrgang der Königsberger Zeitschrift
eröffnete mein Aufsatz "Neue Wege zu alten Zielen".
In seinem ersten Abschnitt entwickelte ich die aller
Philologie gemeinsamen Aufgaben, im zweiten führte
ich nochmals aus, dass dem Unterricht in den neueren
Sprachen ein dem in den klassischen Sprachen
ebenbürtiger Inhalt gegeben werden müsse, wenn
die Oberrealschule den Wettkampf mit dem Gymnasium
aufnehmen solle. Nicht dadurch, dass man der Utopie der
Sprechfertigkeit nachjage, sondern dadurch, dass man die
Lektüre in den Dienst der historischen, ethischen,
aestethischen und philosophischen Bildung stelle,
könne die neuere Philologie ihre Ebenbürtigkeit
unter Beweis stellen. Es sei zu hoffen, dass gerade die
Existenz der Oberrealschulen für die neuere
Philologie als ein Ferment wirke, das neue
Entwicklungsrichtungen auslöse und die Vorbildung
der Neuphilologen in andere Bahnen lenke.
Die
schulpolitischen Probleme hatten nun auf zwei wichtigen
Gebieten so viel Bedeutung für mich erlangt, dass
ein Besuch der im September 1907 in Basel tagenden
Versammlung der Philologen und Schulmänner sich von
selbst verstand. Die Hauptanziehung der Tagung bestand
darin, dass sich vier Hochschullehrer, F. Klein, P.
Wandland, A. Brandl und Ad. Harnack jeder für eine
ihm nahestehende Gruppe von Studien, über die Frage
auszusprechen gedachten, wie die Ausbildung der
Lehramtskandidaten auf der Universität gestaltet
verbessert werden könne, um sie für die
vielfach neuen Aufgaben ihres Berufs besser
vorzubereiten.
Klein
konnte sich auf die seit 1901 geleistete Arbeit der
Unterrichtskombination der Naturforscher und Ärzte
berufen, die in Meran und Stuttgart zu gründlich
erwogenen Studienvorschlägen gekommen war. Der
Vertreter der Altertumswissenschaft, Paul Wendland,
konnte mit Befriedigung feststellen, dass die
Organisation des Universitätsunterrichts auf seinem
Gebiet keiner durchgreifenden Umgestaltung bedürfe.
Die neuen Aufgaben, die Adolf Harnack dem Geschichts- und
Religionsunterricht stellte, hatten für mich keine
unmittelbare Bedeutung. So rückte von selbst der
Vortrag von Brandl in den Brennpunkt meines
Interesses.
Ich
hatte angenommen, dass der Berliner Professor die
vollkommen neue Lage erörtern würde, der die
Vertreter der neueren Sprachen durch die Gewährung
der Gleichberechtigung an die lateinlosen Schulen
gegenüberstanden. Dass er mit Ernst und Nachdruck
auf die Notwendigkeit einer wesentlichen Erweiterung und
völligen Neuorientierung des Studiums hinweisen
würde - und musste erleben, dass von den
Oberrealschulen so gut wie gar nicht oder höchstens
in wegwerfendem Ton die Rede war. Dafür konnte man
hören, dass jetzt ungeheuerliche Anforderungen an
die Schule und die Lehrer gestellt würden, da freies
Sprechen, Schreiben und Verstehen das Ziel geworden sei,
und dass die Universitätsphilologen trotzdem keinen
Zoll breit von dem mittelalterlichen Boden zu opfern
gedächten, wenn sie auch für das rein
praktische Ziel der Sprachbeherrschung Vorsorge treffen
müssten.
Es
war ein Glück, dass der Freiburger Angelist W. Wetz
wenigstens in einer Fachsitzung die Kardinalfrage, um die
es ging, mit dem Ernst behandelte, den man erwarten
dürfte. 1) In einem Aufsatz für das
Pädagogische Archiv hatte ich Gelegenheit, die
beiden Vorträge einander gegenüberzustellen und
mich mit den Unzulänglichkeiten Brandls kritisch
auseinanderzusetzen.
Den
Neuphilologentag in Hannover 1908 konnte ich nicht
besuchen, aber für Zürich übernahm ich
1910 noch einmal die Berichterstattung. Es war mir sehr
erfreulich, dass ich nicht nur die französischen
Vorträge deutsch nachstenographieren konnte, sondern
auch einen italienischen Vortrag vollkommen verstand,
obgleich ich niemals Unterricht nach der Reformmethode
erhalten hatte.
Meine
Sammlung war damals schon erheblich gewachsen und hatte
begeisterte Freunde gefunden. Im Jahr 1912 standen neun
englische und sieben französische Bändchen zur
Auswahl. Es war besonders ein Kreis von jüngeren
Berliner Neuphilologen, allen voran P. Ziertmann in
Steglitz, die sich für den Ausbau und die Verwendung
der Sammlung einsetzten, aber auch in Sachsen und Bayern
fand ich Gesinnungsgenossen und eifrige
Mitarbeiter.
Ich
denke mit viel Vergnügen an den angeregten
Briefwechsel zurück, den ich Jahre lang mit
Neuphilologen an Universität und Schule pflege, ohne
dass die Meisten ahnten, dass sie es mit einem
"Mathematiker" zu tun hatten. Mit weniger Vergnügen
daran, dass mir einmal ein Mitarbeiter, Freund meiner
Sammlung, eine Bearbeitung der "Profession de Foi du
Vicaire Savoyard" aus Rousseaus "Emile" vorlegte, in der
die ganze Einleitung teils aus Hettners
Literaturgeschichte teils aus Sallwürck-Vogts
Vorwort zum "Emile" abgeschrieben war. Wenn ich den
infamen Betrug nicht noch rechtzeitig entdeckt
hätte, wäre ich samt meiner Sammlung erledigt
gewesen. Wir begnügten uns damit, ihm das Machwerk
zurückzusenden und den Vorschuss, den der ehrenwerte
Kollege bereits erhalten hatte, wieder
einzuziehen.
Heute
kann ich wohl fragen, ob ich nicht besser getan
hätte, mich von diesen Angelegenheiten fernzuhalten
und die Reformer und Antireformer ihre Händel unter
sich ausfechten zu lassen. Aber als ich mich verleiten
liess, englische Philosophen herauszugeben, war ich mit
Leib und Seele der Schule verschrieben. So wurde mir
alles wichtig, was ihr Ansehen heben konnte. Es war nicht
meine Art, eine Arbeit nur halb zu tun.
I)
Neusprachlicher Unterricht, Die Zukunft 1908, Bd. 62, S.
5-13, 51-60