Vierundvierzigstes Kapitel.

Neue Wege zu alten Zielen.
 

Es war im Herbst 1903, zu Beginn des Schuljahrs, als mir der Direktor Wittmann bei einem Spaziergang erzählte, dass er mit seinen Primanern gern ein geeignetes philosophisches Werk lesen würde. Leider fehle es bis jetzt an Schulausgaben und er werde seinen Plan wohl nur verwirklichen können, wenn er selbst einen solchen Text herausgebe, oder jemanden finde, der diese Arbeit übernehmen wolle. Ob ich nicht Lust hätte, mir einmal Lockes "Versuch über den menschlichen Verstand" anzusehen? Es müsse sich doch in Bändchen daraus zusammenstellen lassen, das die Hauptgedanken in einigermassen zusammenhängender Form wiedergebe.

Ich war nicht abgeneigt, das Abenteuer zu wagen. Nachdem ich den Stoff in dem erforderlichen Umfang gesichtet und zusammengestellt hatte, arbeitete ich für die ersten Abschnitte auch gleich die Anmerkungen aus. Der Direktor war mit Auswahl und Anmerkungen einverstanden und so konnte ich die Arbeit allein zu Ende führen. Es fragte sich nur noch, wer das Büchlein drucken sollte. Auch dafür wusste der Direktor Rat. Er hatte den jungen und tatkräftigen Inhaber von C. Winter's Universitätsbuchhandlung, Otto Winter, für die Sache interessiert, und ich konnte ohne lange Verhandlungen mit ihm einig werden.

Mit der Ausgabe eines einzelnen Bändchens, war nun freilich noch nicht viel erreicht. Wenn der Gedanke, den Primanern philosophische, kulturgeschichtliche und naturwissenschaftliche Autoren in die Hand zu geben auch anderwärts Wurzel schlagen sollte, musste den Schulen eine grössere Auswahl von Texten zu Gebot stehen. Auch das Französische musste in den Kreis der Sammlung einbezogen werden. Und es war unerlässlich, für diese keineswegs populäre Forderung einer Erweiterung des Lektürestoffs auch grundsätzlich in die Schranken zu treten.

Die Lehrerschaft war damals in zwei feindliche Lager gespalten. Die ältere Generation hielt mehr oder weniger an einer Methode fest, die man als die grammatische bezeichnen konnte, und die im Gymnasium der an den alten Sprachen geübten Lehrweise glich. Die Reformer hatten entdeckt, dass man Sprachen eigentlich nur lerne, um sie zu sprechen, und wollten den ganzen Unterricht auf eine Nachahmung der Erlernung der Muttersprache gründen. So sehr man anerkennen musste, dass für die Anfängerkurse ein frischer Zug in den Unterricht kann, so bedenklich war die Trivialisierung der Lernziele für die Oberklassen, Daran, dass dem sogenannten neusprachlichen Anstalten durch die Verleihung gleicher Rechte ganz neue Pflichten erwachsen waren, und dass die Ziele des Unterrichts einer gründlichen Nachprüfung bedurften, dachte überhaupt noch kaum Jemand.

Um sich über die Ziele der extremen Reform zu unterrichten, brauchte man nur die Jahrgänge von W. Vietor herausgegebenen Zeitschrift "Die Neueren Sprachen" durchzusehen. Die Vertreter der humanistischen Bildungsziele hatten seit 1902 in der von den Königsberger Professoren Kaluza, Koschwitz und Thurau begründeten Zeitschrift für französischen und englischen Unterricht ein Kampforgan erhalten. Koschwitz rechnete schon im ersten Band in einer grossen Abhandlung1) mit den Unbesonnenheiten und dem Banausentum der Reformer so gründlich ab und legte die Bildungsaufgaben der neueren Sprachen so überzeugend dar, dass schon dadurch den masslosen Ansprüchen der Gegenseite ein Halt geboten war. Aber ich brauchte nicht Berge von Literatur durchzuarbeiten, um über Unterrichtsmethoden zu einem Urteil zu kommen; dazu genügte gesunder Menschenverstand und die eigene Spracherfahrung.

Was mir noch fehlte, war ein Einblick in das Treiben auf dem Neuphilologentag. Es reizte mich, unerkannt einmal an einer solchen Veranstaltung teilzunehmen und die grossen Männer der Reform mit eigenen Augen zu sehen. Dazu bot die Kölner Versammlung zu Pfingsten 1904 die nächste Gelegenheit. Der Besuch der Tagung hatte für mich noch den besonderen Reiz, dass ein badischer Oberschulrat einen Vortrag über die Frage angekündigt hatte, wie die neusprachlichen Schulen eine Allgemeinbildung vermitteln könnten, die der des Gymnasiums gleichwertig sei.

Seit meiner ersten Rheinreise waren zwanzig Jahre vergangen. Welche Stürme von Empfindungen und Erinnerungen drängten sich aus der Tiefe herauf, als ich nun zum zweiten Mal die herrliche Fahrt antrat! Und wie leid tat es mir, dass meine liebe Frau die schönen Tage nicht mitgeniessen konnte! Aber es war unmöglich, vier Kinder allein zu lassen. Der kleine Walter, der seit vier Wochen im Korbwagen strampelte, hätte das sicher sehr übel genommen.

Der Glanz jener Pfingsttage, die übermütige Stimmung, die mich während der ganzen Verhandlung nicht verliess, die auch in dem Bericht, den ich für unsere Schulblätter schrieb, überall durchbricht, ist mir noch so gegenwärtig, als lägen nur drei, nicht dreissig Jahre zwischen damals und heute. Die Herzlichkeit des Empfangs, die rheinisch-frohe Laune, die dem Fremden überall entgegenschlug, gab der Versammlung etwas von einem Familienfest. Da ich mir nur die schulpolitischen Vorträge anhören wollte, blieb Zeit genug, der Stadt und dem Dom einige Stunden zu widmen, einen Nachmittag in dem berühmten Tiergarten zuzubringen, und für einen Tag nach Düssel zu fahren, wo eine grosse Kunstausstellung und eine Gartenbau-Ausstellung zum Besuche einluden.

Die erste allgemeine Sitzung wurde durch eine Rede des Regierungsrats Dunker vom Preussischen Ministerium für Handel und Gewerbe eröffnet. Auch das Kriegsministerium hatte einen Vertreter geschickt. Nur das Unterrichtsministerium glänzte durch Abwesenheit. Das sah nicht gerade wie ein Vertrauensvotum für die Neuphilologen aus.

Dunker forderte, dass sich die Neuphilologen nicht auf das Sprachstudium beschränken, sondern auch die geschichtliche Entwicklung der englischen und französischen Rasse gründlich studieren sollten. Der Vertreter des Badischen Oberschulrats hätte Gelegenheit gehabt, im Anschluss an diese Rede die ganze innere Dürftigkeit des neuphilologischen Studiums klarzulegen und seine Anpassung an das umfassende Studienprogramm der klassischen Philologen zu fordern. - Dass davon letzten Endes die Anerkennung der kulturellen Gleichwertigkeit der neueren Philologie und der von ihr beherrschten Schulen abhing, war dem Zögling des grossen Wendt offenbar noch nicht zum Bewusstsein gekommen. Er war nur erschienen, um die These zu verteidigen, dass die Oberrealschulen auch das von der Reform verpönte Übersetzen in die Muttersprache pflegen müssten, wenn sie als Bildungsschulen anerkannt werden wollten.

Der nächste Redner, schultechnischer Mitarbeiter am Provinzial-Schulkollegium in Berlin, stellte fest, dass auch die Kreise, die für die Reform eingetreten seien, eine gewisse Mutlosigkeit ergriffen habe, und dass trotz aller Siegeszuversicht der Massen ein Mangel an Vertrauen zum eigenen Werk bestehe. Die Führer, die mit unverwüstlicher Kraft und vom Glück begünstigt vorwärts stürmten, wüssten nichts von dem quälenden Widerstreit zwischen Wollen und Können, den alle anderen empfänden. Es sei unmöglich, dass ein durchschnittlich veranlagter Mensch mehrere lebende Sprachen so vollkommen beherrsche, wie es die Reformer verlangten. Die Lehrbefähigung für Französisch und Englisch müsse grundsätzlich getrennt werden, wenn man nicht auf jede tüchtige Leistung verzichten wolle. Die zweite Hauptsitzung eröffnete Direktor Walter, der wortgewaltige Führer der Reform mit einem Vortrag über den Gebrauch der Fremdsprache bei der Lektüre in den Oberklassen. Auf seiner Schule werde alles in der fremden Sprache erklärt und wiedererzählt, die Schüler müssten sich völlig frei in der Sprache bewegen; nur bei Texten, die in ein höheres Gebiet führten, würden auch Musterübersetzungen gefordert.

Der zweite Redner, Oberlehrer Dr. Löwisch, verlangte vom neusprachlichen Unterricht, dass er durch Lektüre und freien Sachunterricht ein erschöpfendes Bild von England und Frankreich gäbe. Sprachgeschichte, Kunstgeschichte, Philosophie und wissenschaftliche Prosa seien auszuschliessen, um für die Politik und Wirtschaftsgeschichte Raum zu schaffen. Gesetzgebung, Verwaltung, Heer und Flotte, Post und Eisenbahn, Industrie und Handel, Versicherungswesen und Finanzwirtschaft müssten in der Schule gelehrt werden. Der Neuphilologe müsse seine ganze Privatlektüre in den Dienst dieser hohen Aufgabe stellen. Nur dadurch werde man nach Form und Inhalt eine der klassischen ähnlichen Allgemeinbildung erzielen.

Es war ein Glück, dass nach den beiden Überreformern noch ein Redner zu Wort kam, der die Aussprache wieder auf den Boden des allgemein Möglichen zurückführte. Oberrealschuldirektor Unruh aus Breslau hatte den Auftrag übernommen, über einen organisch zusammenhängenden Lektüreplan zu berichten, der dem französischen und englischen Unterricht der lateinlossen Anstalten zu Grunde gelegt werden sollte. Er wies auf die Gefahr hin, dass das Niveau der Lektüre mehr und mehr herabgedrückt würde, wenn der Gebrauch der Fremdsprache auch aus der Oberstufe als das höchste Ziel erklärt würde. Die Schüler würden dann nicht erfahren, dass Frankreich und England auch grosse Geister hervorgebracht hätten.

Nun hatte ich von Reform und Anti-Reform genug gehört. Es war kein erfreuliches Schauspiel, wie die Geister in der Diskussion aufeinanderplatzten. Leite vom Schlage Kinghardts und Dörrs konnten meiner Auffassung von den Zielen des Unterrichts wirklich nicht gefährlich werden. Es war nur notwendig, vor aller Welt dafür einzutreten. Die Gelegenheit war leicht gefunden, nachdem ich wegen einer Äusserung über meinen Kölner Bericht mit Prof. Kaluza in Briefwechsel gekommen war. Ich entwickelte meine Ansichten in einem Aufsatz über den neusprachlichen Unterricht an den Oberrealschulen, der im Frühjahr 1905 in der Königsberger Zeitschrift zum Abdruck kam. Die Herausgeber wussten nicht, dass hier ein ausserhalb der Zunft Stehender das Wort ergriff, und von den badischen Kollegen hatte keiner Anlass, das Geheimnis zu lüften. Nur wenige sahen und verstanden die kleinen Bosheiten, die schon in meinem Kölner Bericht und nun auch in dem programmatischen Aufsatz versteckt waren.

Im folgenden Jahr veröffentlichte ich die Abhandlung "Über den Anteil der Neueren Philologie am Ausbau des modernen Bildungsideals". Sie erörterte unter weitester Berücksichtigung der für eine moderne Schule wichtigen Lehrinhalte die Frage, welche Leistungen von der neueren Philologie zu fordern seien, wenn sie das Erbe der klassischen Philologie antreten wolle:

"Innerliche Geistesbildung gedeiht nicht im Lärm der Gassen und des 'flutenden Gegenwartslebens', sie wächst in der Stille und zieht ihre Nahrung aus den grossen Schriftstellern, die den wechselnden Launen modischer Beurteilung weit genug entrückt sind. Historischer und philosophischer Sinn entwickelt sich nicht an der Zeitungslektüre oder an Darstellungen jüngst vergangener Ereignisse, sondern durch die Vertiefung in die Werke derer, die den einzelnen Epochen den Stempel ihres Geistes aufgeprägt haben. Wie man am Gymnasium immer wieder auf die Quellen der alten Philosophie und Geschichtsschreibung, zu den griechischen Evangelien und zur hebräischen Bibel zurückgeht, so muss die neuere Philologie an den Oberrealschulen zu den Grundlagen des modernen Denkens zurückführen, wenn sie sich nicht den Vorwurf der Unzulänglichkeit gegenüber den höchsten Aufgaben des Unterrichts zuziehen will.

Die Neigung, immer wieder mit Neuestem aus Frankreich und England aufzuwarten und Dinge breitzutreten, die auch jeder Handlungsreisende sieht, der nach London oder Paris fährt, die aber für die Geistesbildung unserer deutschen Jugend völlig gleichgültig und wertlos sind, ist nicht weit genug verbreitet und führt zu höchst seltsamen Erscheinungen. Diese Äusserlichkeiten, die man aus England und Frankreich importiert, gelten noch vielfach als besondere Würze und Empfehlung des neusprachlichen Unterrichts. Kann man sich da wundern, wenn Männer, die zwar vielleicht nie den Boden Englands oder Frankreich betreten haben und weder die Pariser Sitten, noch das Londoner Strassenleben aus eigener Erfahrung kenne, dafür aber an der dichterischen, wissenschaftlichen und philosophischen Literatur der Engländer und Franzosen lebhaftesten Anteil nehmen, für diese Fremdenführerbildung nur ein ironisches Lächeln übrig haben?"

Inzwischen hatte ich noch zwei neue englische Bändchen, Auszüge aus Shaftesburys "On Virtue and Merit" und Spencers "First Principals" herausgegeben, auch waren schon Verhandlungen mit anderen Schulmännern und Fachleuten angeknüpft, um die Sammlung zu erweitern. Es hatte sich ein lebhafter Briefwechsel mit Freunden meiner Bestrebungen entwickelt, ich war selber Führer einer Schar von Neuphilologen geworden. Es gab kein Zurück mehr, ich musste den aufgenommenen Kampf weiterführen.

Kaluza bat mich, für die Königsberger Zeitschrift über die Verhandlungen des nächsten, in München zusammentretenden Neuphilologentags zu berichten. Ich sagte mit Vergnügen zu; diesmal konnte ich diese Reise mit meiner Frau gemeinsam unternehmen. Die Münchener Stimmung gab der in Köln nichts nach. Von den Vorträgen und Debatten, deren Schärfe bisweilen die Grenzen des Erträglichen überschritt, will ich hier nicht weiter sprechen. Ich erlebte die Genugtuung, dass H. Schneegans, der Vertreter der romanischen Philologie in Würzburg, auf meinen letzten Aufsatz mit Nachdruck hinwies, und sich mit meinen Forderungen völlig einverstanden erklärte. Jetzt war auch der Weg frei zur Anknüpfung persönlicher Beziehung. Es wagte niemand zu fragen, woher ich denn das Recht zum Mitreden hätte!

Den neuen Jahrgang der Königsberger Zeitschrift eröffnete mein Aufsatz "Neue Wege zu alten Zielen". In seinem ersten Abschnitt entwickelte ich die aller Philologie gemeinsamen Aufgaben, im zweiten führte ich nochmals aus, dass dem Unterricht in den neueren Sprachen ein dem in den klassischen Sprachen ebenbürtiger Inhalt gegeben werden müsse, wenn die Oberrealschule den Wettkampf mit dem Gymnasium aufnehmen solle. Nicht dadurch, dass man der Utopie der Sprechfertigkeit nachjage, sondern dadurch, dass man die Lektüre in den Dienst der historischen, ethischen, aestethischen und philosophischen Bildung stelle, könne die neuere Philologie ihre Ebenbürtigkeit unter Beweis stellen. Es sei zu hoffen, dass gerade die Existenz der Oberrealschulen für die neuere Philologie als ein Ferment wirke, das neue Entwicklungsrichtungen auslöse und die Vorbildung der Neuphilologen in andere Bahnen lenke.

Die schulpolitischen Probleme hatten nun auf zwei wichtigen Gebieten so viel Bedeutung für mich erlangt, dass ein Besuch der im September 1907 in Basel tagenden Versammlung der Philologen und Schulmänner sich von selbst verstand. Die Hauptanziehung der Tagung bestand darin, dass sich vier Hochschullehrer, F. Klein, P. Wandland, A. Brandl und Ad. Harnack jeder für eine ihm nahestehende Gruppe von Studien, über die Frage auszusprechen gedachten, wie die Ausbildung der Lehramtskandidaten auf der Universität gestaltet verbessert werden könne, um sie für die vielfach neuen Aufgaben ihres Berufs besser vorzubereiten.

Klein konnte sich auf die seit 1901 geleistete Arbeit der Unterrichtskombination der Naturforscher und Ärzte berufen, die in Meran und Stuttgart zu gründlich erwogenen Studienvorschlägen gekommen war. Der Vertreter der Altertumswissenschaft, Paul Wendland, konnte mit Befriedigung feststellen, dass die Organisation des Universitätsunterrichts auf seinem Gebiet keiner durchgreifenden Umgestaltung bedürfe. Die neuen Aufgaben, die Adolf Harnack dem Geschichts- und Religionsunterricht stellte, hatten für mich keine unmittelbare Bedeutung. So rückte von selbst der Vortrag von Brandl in den Brennpunkt meines Interesses.

Ich hatte angenommen, dass der Berliner Professor die vollkommen neue Lage erörtern würde, der die Vertreter der neueren Sprachen durch die Gewährung der Gleichberechtigung an die lateinlosen Schulen gegenüberstanden. Dass er mit Ernst und Nachdruck auf die Notwendigkeit einer wesentlichen Erweiterung und völligen Neuorientierung des Studiums hinweisen würde - und musste erleben, dass von den Oberrealschulen so gut wie gar nicht oder höchstens in wegwerfendem Ton die Rede war. Dafür konnte man hören, dass jetzt ungeheuerliche Anforderungen an die Schule und die Lehrer gestellt würden, da freies Sprechen, Schreiben und Verstehen das Ziel geworden sei, und dass die Universitätsphilologen trotzdem keinen Zoll breit von dem mittelalterlichen Boden zu opfern gedächten, wenn sie auch für das rein praktische Ziel der Sprachbeherrschung Vorsorge treffen müssten.

Es war ein Glück, dass der Freiburger Angelist W. Wetz wenigstens in einer Fachsitzung die Kardinalfrage, um die es ging, mit dem Ernst behandelte, den man erwarten dürfte. 1) In einem Aufsatz für das Pädagogische Archiv hatte ich Gelegenheit, die beiden Vorträge einander gegenüberzustellen und mich mit den Unzulänglichkeiten Brandls kritisch auseinanderzusetzen.

Den Neuphilologentag in Hannover 1908 konnte ich nicht besuchen, aber für Zürich übernahm ich 1910 noch einmal die Berichterstattung. Es war mir sehr erfreulich, dass ich nicht nur die französischen Vorträge deutsch nachstenographieren konnte, sondern auch einen italienischen Vortrag vollkommen verstand, obgleich ich niemals Unterricht nach der Reformmethode erhalten hatte.

Meine Sammlung war damals schon erheblich gewachsen und hatte begeisterte Freunde gefunden. Im Jahr 1912 standen neun englische und sieben französische Bändchen zur Auswahl. Es war besonders ein Kreis von jüngeren Berliner Neuphilologen, allen voran P. Ziertmann in Steglitz, die sich für den Ausbau und die Verwendung der Sammlung einsetzten, aber auch in Sachsen und Bayern fand ich Gesinnungsgenossen und eifrige Mitarbeiter.

Ich denke mit viel Vergnügen an den angeregten Briefwechsel zurück, den ich Jahre lang mit Neuphilologen an Universität und Schule pflege, ohne dass die Meisten ahnten, dass sie es mit einem "Mathematiker" zu tun hatten. Mit weniger Vergnügen daran, dass mir einmal ein Mitarbeiter, Freund meiner Sammlung, eine Bearbeitung der "Profession de Foi du Vicaire Savoyard" aus Rousseaus "Emile" vorlegte, in der die ganze Einleitung teils aus Hettners Literaturgeschichte teils aus Sallwürck-Vogts Vorwort zum "Emile" abgeschrieben war. Wenn ich den infamen Betrug nicht noch rechtzeitig entdeckt hätte, wäre ich samt meiner Sammlung erledigt gewesen. Wir begnügten uns damit, ihm das Machwerk zurückzusenden und den Vorschuss, den der ehrenwerte Kollege bereits erhalten hatte, wieder einzuziehen.

Heute kann ich wohl fragen, ob ich nicht besser getan hätte, mich von diesen Angelegenheiten fernzuhalten und die Reformer und Antireformer ihre Händel unter sich ausfechten zu lassen. Aber als ich mich verleiten liess, englische Philosophen herauszugeben, war ich mit Leib und Seele der Schule verschrieben. So wurde mir alles wichtig, was ihr Ansehen heben konnte. Es war nicht meine Art, eine Arbeit nur halb zu tun.


I) Neusprachlicher Unterricht, Die Zukunft 1908, Bd. 62, S. 5-13, 51-60

 

 


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© Julius Ruska 1937