Vierundzwanzigstes Kapitel

Himmelhoch jauchzend - zum Tode betrübt.
Als wir uns nach den Ferien in dem schönen grossen Klassenzimmer der Unterprima sammelten, waren wir auf neun Männlein zusammengeschmolzen. So klein war die Schülerzahl einer Prima seit Menschengedenken nicht mehr gewesen. Wieder waren einige hängen geblieben, andere hatten die Schule verlassen, weil sie für ihren künftigen Beruf mit Primareife auskamen, Max Krieg war als künftiger Theologe von seinen Verwandten in das Freiburger Knabenkonvikt verpflanzt worden, wo er weniger leicht Seitensprünge machen konnte. Was noch übrig blieb, war nach Lebensart und Anschauungen in kleine Gruppen geschieden. Drei wohnten bei ihrem Eltern. Dietrich in Plittersdorf, Niedereder in Kuppenheim, Eiche in Rastatt selbst, als einziger in der Stadt aufgewachsener Mitschüler. Drei andere, die erst in Obersekunda eingetreten waren, Fentzling, Neukirch und Gerlach, wohnten in der Gegend der roten Häuser, dem von Hansjakobs Schilderungen her bekannten Studentenviertel. Sie hielten wie die Kletten zusammen und trieben alles, was verboten war. Zwei waren Schwarzwälder, Gerlach kam aus Dallau im Bauland und hatte bisher das Gymnasium in Tauberbischofsheim besucht. Fentzling war ein Riese an Gestalt und Kräften, schwarzhaarig und rotbackig, mit einer spitzen Nase und blitzenden schwarzen Augen, gewalttätig und unheimlich, wenn er zuviel getrunken hatte. Neukirch war ein geniales Sumpfhuhn, doch auch im entrückten Zustand noch erträglich und bei allen beliebt. Gerlach hatte sich schon in Obersekunda durch seine überlegene Philologie an die Spitze der Klasse gesetzt; ein scharfsinniger, kühler Kopf, ehrgeizig und arbeitsam, passte er doch in sonstiger Hinsicht recht gut zu den beiden anderen. Die letzten drei waren Pauli, May und ich, ein Rest, der sich fast mit Notwendigkeit in engerer Freundschaft zusammenfand.

Auch im Lehrerkollegium waren durch Pensionierung und Versetzung starke Änderungen eingetreten. Nach Rivolas Wegzug war Follenius in die freigewordene Wohnung im Gymnasium gekommen. Es war die vornehmste der drei Professorenwohnungen, die in dem alten Piaristenkloster zur Verfügung standen, eine Treppe hoch im Hauptbau gelegen, und durch einen Glasverschluss vor profanen Blicken geschützt. Zwei Treppen hoch wohnten Rapp und Kremp. Im rechten Flügel war die Wohnung des Direktors, im linken die des Studienfondsverwalters, in dessen Amtszimmer man das Schulgeld bezahlen musste. Nach Rapps Pensionierung zog Zürn in die Wohnung. An die Frauen der Professoren habe ich nicht die leiseste Erinnerung, von den Kindern wüsste ich mehr zu erzählen. Follenius hatte damals einen kleinen Sohn Chäorch, den er sichtlich vom gemeinen Haufen fern hielt, Kremp ausser einem erwachsenen Sohn zwei Buben von fünf Jahren, die auf dem Platz vor dem Gymnasium zu spielen pflegten. Der Direktor Kuhn war mit einem Sohn und einer Tochter gesegnet, die an Länge ihres Vaters würdig waren.

Als Ersatz für Rivola war ein preussischer Neuphilologe namens Steinhauer an die Schule gekommen. Er wurde hauptsächlich in Sexta und Quinta beschäftigt, bekam aber auch das Französische in Prima übertragen. Ein kleines, stark von sich und seinen Leistungen eingenommenes Männlein, hatte er bald ein paar Spitznamen weg. Mit seiner Autorität war es nicht weit her, obgleich er sich redlich Mühe gab, den Mangel an Grösse durch energisches Auftrumpfen wett zu machen. Rapps Nachfolger wurde ein Professor Behrle, mit dem wir nichts mehr zu tun hatten. Auch der Musiklehrer Bender, der seit 1852 an der Schule tätig gewesen war, schied jetzt aus; er wurde einstweilen durch den Organisten Lang von der Stadtkirche ersetzt. Für den an das Heidelberger Gymnasium versetzten Both wurde der geistliche Professor Dr. Schuler aus Donaueschingen der Anstalt zugewiesen; mit ihm werde ich mich später noch zu befassen haben.

Bei uns hatten jetzt die besten Lehrer - Zürn, Nürnberger und Follenius - fast den ganzen Unterricht in Händen. Zürn gab als Ordinarius Latein, Deutsch und Psychologie, Nürnberger Griechisch und Deutsch. Das war eine vorzügliche Mischung, und ich muss sagen, wenn wir jemals den Sinn des humanistischen Bildungsideals begriffen haben, so ist es in Unterprima gewesen. Die Einzelheiten werde ich nachholen, wenn ich auf die ganze gymnasiale Erziehung zu sprechen komme. Vorerst gilt es, über andere Dinge zu berichten.

Es lag etwas in der Luft, Geisterflüstern, Feenzauber, Rauschen von Engelsfittichen - wer weiss, was um mich vorging - ich zog mein Tagebuch aus dem Winkel hervor und begann aufzuschreiben, was ich der Erinnerung wert fand - Spaziergang mit Emil, Besuche bei Konrad, Begegnungen mit Frieda. Ich war bis dahin noch nie in Konrads Wohnung gewesen; es war ja auch kein Anlass, uns gegenseitig auf den Buden zu besuchen, wenn wir täglich in der Schule beisammen waren. Noch weniger hatte ich mich um die Familie gekümmert, bei der er wohnte. Ich wusste nur, dass ein Obereinnehmer ein grosses Tier war, und dass der Sohn Karl, dessen aristokratische Erscheinung auf mich schon in Obertertia einen tiefen Eindruck gemacht hatten, jetzt irgendwo als Apotheker tätig war.

In den grossen Ferien hatte Emil entdeckt, dass in dem Hause des Obereinnehmers auch noch ein paar hübsche Kinder mit dicken blonden Zöpfen wohnten. So ergab sich bald, dass wir bei gemeinsamen Bummeln die Herrenstrasse zur Operationsbasis wählten und auch unserem Freunde Konrad öfters Besuche machten. Er war drei Jahre älter als ich und anderthalb Jahre als Emil, an Lebenserfahrung uns schon durch seine Herkunft weit voraus, ein stiller und ernster, vielleicht ein wenig ironischer Mensch, unbedingt zuverlässig und von vornehmer Gesinnung, so dass ich mit einem Gemisch von Respekt und Zuneigung an ihm hing. Nun war auch sein Stiefbruder Robert mit ihm gekommen, um in Obertertia einzutreten. Da er kaum ein Jahr jünger war als ich und wir bald in der Musik gemeinsame Interessen entdeckten, dauerte es nicht lange, bis auch wir gute Freunde wurden. Robert war ein hochbegabter Mensch, auch durch äussere Vorzüge ausgezeichnet, deren sich der untersetzte, sommersprossige Konrad nicht rühmen konnte, aber ein Leichtfuss dem die glänzenden Verhältnisse seiner Eltern nicht zum Segen gereichten.

Von den drei Grazien, die zur Z.'schen Familie gehörten, war Klärchen zu jung und Maria zu ernst; die mittlere aber, der wir den Hof machten, war gleich auch die Schönste und hatte Verständnis für verliebte Studentenbuben.

Bis Weihnachten war es bei einem allgemeinen Geplänkel geblieben. Als Freunde der Brüder Pauli durften wir grüssen und wurden gegrüsst - Seligkeit genug für ein Vierteljahr. Die Weihnachtsferien bedeuteten die erste Trennung. Nun verstand ich endlich Schillers Glocke. Es stimmte alles bis aufs Letzte, ich brauchte Seidenadels Kommentar nicht mehr.

Bald blühten neue Hoffnungen auf. Ein plötzliches Tauwetter hatte gleich nach Weihnachten im ganzen Rheingebiet Überschwemmungen verursacht. Auch Rastatt wurde schwer heimgesucht; die Niederungen standen noch unter Wasser, als ich zurückfuhr. Dann brach neue Kälte ein und verwandelte die überschwemmten Wiesen in weite Eisflächen. Welch ein Fest konnte das werden, wenn wir zusammen Schlittschuh liefen!

Ein Konzert im Kronensaal brachte am 10. Januar das erste Wiedersehen. Wir wussten, dass die ganze Familie kommen würde. Kurz vor Beginn der Vorstellung spazierten sie herein und nahmen in der vordersten Reihe Platz: der Herr Obereinnehmer, freundlich und behäbig, mit kurzem blondem Bart und goldener Brille, die gestrenge Mama, stattlich und vornehm, die drei Töchter festlich gekleidet, mit breiten Spitzkragen unter den Zöpfen, ein wonnevoller Anblick.

Tags darauf starb unerwartet, nach kurzem Kranksein, der Direktor Kuhn. Da ich ihn noch nicht als Lehrer gehabt hatte, blieb die Beteiligung an dem feierlichen Leichenbegängnis ohne tieferen Eindruck. Schon am Tage der Beisetzung war grosses Treffen auf dem Schlittschuh-Platz am Kehler Tor. Wir hatten uns gleich entdeckt und machten nicht viel Umwege, um zusammenzukommen. Womit werden wir uns die Zeit vertrieben haben? Erzählten wir uns vom Schulelend oder anderen schrecklichen Dingen? Oder schwebten wir in seligen Träumen über das Eis hin? Es war ein unerhörtes Erlebnis - in dieser Nacht tat ich kein Auge zu. Die Engel im Himmel konnten nicht glücklicher sein. Am Tag darauf, es war ein Sonntag, erfuhren wir, dass Konrad mit Beatrice auf den Rheinauer Wiesen Schlittschuh fahren würde. Wir erwarteten beide am Bauhof und zogen zu viert der Rheinau zu. Es hatte seine Unbequemlichkeiten mit den Wiesen, wir mussten unsere Mäntel zusammenlegen, um eine Sitzgelegenheit zu schaffen, aber die freie Fahrt war herrlich, und Konrad liess uns drei ungestört.

Drei Wochen später war Fastnacht. Wir wussten ziemlich sicher, dass uns Follenius als stellvertretender Direktor den Dienstag Nachmittag freigeben würde. Jetzt galt es die Narrenfreiheit zu nützen und allen Möglichkeiten kühn ins Auge zu sehen. Fast die ganze Prima und Obersekunda versah sich mit Maskenanzügen. Emil hatte Weiss und Rot für sein Bajazzo-Kostüm gewählt, ich war wie ein Salamander geheimnisvoll in Schwarz und Gelb gekleidet. Schon am Sonntag waren wir den ganzen Tag auf den Beinen, am Dienstag erreichte der Trubel den Höhepunkt. Wir trieben jeden Unfug, umzingelten die Alten und verfolgten die Jungen, führten Indianertänze auf, schenkten Veilchensträusse und liessen uns in den Häusern mit Fastnachtskräppeln füttern. Am Dienstag stürmten wir, etwa ein Dutzend an Zahl, die Obereinnehmerei. Der Empfang konnte nicht herzlicher sein, und auch wir liessen es nicht an Artigkeit fehlen. Es gab unendliche Mengen Kräppel, und wir schlugen vor, zum Dank dafür zu singen. Ich setzte mich ans Klavier, die anderen auf den Boden. Ein Oberprimaner gab auch noch ein Solo zum Besten. Dann schlug der alte Herr vor, dass auch Maria und Beatrice singen und spielen sollten. Es war himmlisch. Als wir unter endlosen Komplimenten abzogen, wurden wir noch mit Zigarren beschenkt. 25 Jahre später spielten sich bei Ruskas in Heidelberg ähnliche Szenen ab. Ich dachte vergangener Zeiten, die Kinder heulten fast, dass ihnen die wüsten Gesellen alle Kräppel weggefressen hatten. Es blieb uns nichts übrig, als eine neue und verbesserte Auflage herauszugeben.

Der Organist Lang war auf den schönen Gedanken verfallen, zur Verstärkung des Kirchenchors Primaner und höhere Töchter beizuziehen. Auch in der Schlosskirche trafen wir uns zu diesen frommen Übungen. Im übrigen blieb es bei Begegnungen und gegenseitigen kleinen Geschenken. Von Herrn Eckstein erfuhr ich, wo im Festungsbereich die schönsten Veilchen wuchsen. Ich war im Lied von der Glocke wiederum ein paar Zeilen weitergekommen.

Die Osterferien rückten heran, zum zweitenmal eine schreckliche Trennung. Ich hatte versprochen, zu ihrem grossen Fest am Weissen Sonntag in der Kirche zu erscheinen. Aber unter welchem Vorwand solle ich von zu Hause wegkommen? Ich brachte das Opfer, auf eine Fahrt nach Strassburg zu verzichten, wohin wir alle zu dem gleichen Fest geladen waren, und dampfte schon Samstags nach Rastatt ab. Am Sonntag wohnte ich der Feier bei, tief in fromme Gedanken versunken. Am Montag war mir schon wieder weltlicher zu Mut. Robert hatte mir erzählt, Beatrice hätte gern von mir ein Andenken an diesen Tag. Ich opferte meine ganz Barschaft und kaufte ihr ein silbernes Kreuz. Von meinem Freund und Mitbewerber war damals schon lange nicht mehr die Rede. Warum das Schicksal zu meinen Gunsten entschied, ist schwer zu sagen. War es, weil der jüngere Pauli sich auf meine Seite geschlagen hatte und ich durch ihn jeder Zeit Botschaften an sie gelangen lassen konnte? Hatte er den ohnehin schon stürmischen Freier zu solcher Leidenschaft aufgepeitscht, dass er den stilleren Liebhaber aus dem Feld schlug?

Mitte April wurde ich durch Konrad zu einem Spaziergang nach Muggensturm eingeladen. Der alte Herr hatte dort dienstlich zu tun und nahm seine Tochter und ihre Freundin, Konrad und mich als Begleiter mit. Wollte er mich etwas mehr in Augenschein nehmen? Wollte er mich auf die Probe stellen? Ich hätte dem guten Mann um den Hals fallen können: lieber aber noch seinem Töchterlein, das mir zu der Einladung verholfen hatte.

Am folgenden Sonntag feierten die Markomannia in Sinsheim ihr Stiftungsfest. Mützen zu tragen war längst verboten, aber die Verbindung bestand weiter, und es war für die alten Sueven Ehrensache, der Fahne treu zu bleiben. Die geistlich gerichtete Oberprima war der alte Stamm, aber auch die Unterprima war fast vollzählig vertreten. Konrad beteiligte sich nur als Konkneipant, angeblich aus Gesundheitsrücksichten, in Wahrheit, weil ihm dieses ganze Treiben zu dumm war.

Die Schule hatte an Ostern einen neuen Direktor erhalten. Dr. E. Oster war denen, die die Unterklassen besucht hatten, nicht unbekannt, denn er war von 1869-1879 am Gymnasium Professor und seit 1877 auch Rektor der städtischen Schulen gewesen. Diese Tätigkeit war das Sprungbrett zu seinem ersten Direktorposten am Progymnasium in Tauberbischofsheim und am Lehrerseminar in Ettlingen. Von seiner jetzigen Stelle aus konnte er höchstens noch Oberschulrat und Geheimer Hofrat werden. Auch dieser Traum ging dem ehrgeizigen Mann in Erfüllung.

Wer ihn zum ersten Mal sah, konnte ihn für einen wüsten Demokraten halten. Eine sympathische Erscheinung war er nicht. Das fahle Gesicht von einem ungepflegten struppigen Schnurrbart à la Nietzsche verborgen, eine unschöne eingedrückte Nase, stechende Augen, hinter einer goldenen Brille verborgen - das war der Kopf, der aus den grauen Kleidern herausschaute. Dass der Mann überall herumschlich und unvermutet auftauchte, machte ihn uns auch nicht sympathischer. Wer hätte nach der äusseren Erscheinung auf die Vermutung kommen können, dass der neue Direktor - ein katholischer Geistlicher war? Wie erstaunt war ich aber erst, als er sich gelegentlich nach meinem Vater erkundigte und sich herausstellte, dass er kein anderer war als jener klerikale Heißsporn, der ihm in Bühl einst so aufsässig gewesen war. Die Zeiten hatten sich geändert, der Wind hatte sich gedreht. Im Kirchendienst musste man ultramontan sein, im Staatsdienst musste man der liberalen Richtung huldigen, wenn man vorwärts kommen wollte. Der Geistliche war nur noch an der Tonsur zu erkennen; der Direktor gab sich liberal. Dass er liberal sei, hörte ich aus seinem eigenen Munde; vielleicht sollte ich meinem Vater die frohe Botschaft bringen, damit er sich über die Zukunft seines Sprösslings keine unnötigen Sorgen machte.

Der Mai war gekommen, das Bummeln und die Besuche bei Paulis nahmen kein Ende. Hatte seit Fastnacht die Schule Kenntnis von meinem holden Wahn, so wusste jetzt die ganze Stadt Bescheid. War es ein Wunder, dass nun die frommen Leute anfingen, sich um unser Seelenheil Sorgen zu machen? Man setzte die Geistlichkeit in Bewegung, man schrieb anonyme Briefe an den Direktor. Auch das Sinsheimer Stiftungsfest mit allem Drum und Dran war verraten worden. Ich wurde zum Stadtpfarrer Ruth zitiert, der mir das mitteilte und dringend vor den unvermeidlichen Folgen warnte. Ruth war ein dicker Herr mit einem nicht ohne Grund roten Kopf, der mich persönlich kannte, weil ich einem bei ihm wohnenden Pensionär eine Zeitlang Mathematikstunden gab. Man sah dem Pfarrer an, dass er uns allen gern helfen wollte. Auch Vater Z., dem der Direktor die Briefe gezeigt hatte, liess mir sagen, ich möchte es nicht zu arg treiben. Am andern Tag sprach er mich auf der Strasse selber an. Es seien drei Briefe mit verschiedenen Handschriften, einer berühre ihn sogar persönlich. Er glaube den Schreiber zu kennen; wer anonyme Briefe schreibe, sei ein Hund, der Prügel verdiene. Das war Musik für meine Ohren. Am gleichen Tag wurde ich mit Konrad zum Direktor befohlen. Das konnte ja nett werden! Aber nichts geschah, wir wurden nur wegen eines Ulks, den wir uns mit dem Pedell erlaubt hatten, zur Rede gestellt und erhielten einen Tag Wirtshausverbot. In den Pfingstferien wurde mir zu Hause vom Pfarrverweser Hundt wegen der Markomannia schwer zugesetzt. Ich musste das Versprechen geben, auszutreten, und konnte Gott danken, dass mein Vater von all diesen Dingen nichts erfuhr. Nach Rastatt zurückgekehrt besprach ich die Lage mit meinem Leibburschen. Ich galt als ausgetreten, die Verbindung wurde aber erst im Juli aufgelöst, als in Folge scharfer Massregeln von Karlsruhe her kein anderer Ausweg mehr möglich war. Ich erinnere mich noch gar gut an die Geheimsitzung, die in einer bei Niederbühl einsam am Murgdamm gelegenen Kneipe stattfand. Schläger, Wappen, Mützen, Kommersbücher, die ganze bewegliche Habe wurde bis auf bessere Zeiten auf dem Speicher des Fuchsmajors oder vielmehr seines Vaters, des Mehlhändlers Kaufmann, untergebracht. Ich war der letzte Bursch gewesen, der das Schwarz-Weiss-Grüne Band trug.

Der Mai ging dahin, die Zeit der Rosen war gekommen. Was für herrliche Rosen wuchsen in dem kleinen Garten des Obereinnehmers! Ein ganzes grosses Beet mit hochstämmigen Rosen in allen Farben, dunkeln und rosenroten, gelben und weissen - konnte ich da unbeschenkt bleiben? Es gab keinen Sonntag, an dem ich nicht oben bei meinen Freunden sass, an den wir uns nicht trafen und in die Augen schauten, auch wenn die alte Karline noch eifrig Wache stand.

Waren die Rosen nicht die Verheissung von noch köstlicheren Geschenken? Man musste nur den Mut haben, sie sich selber zu holen. Der Zustand war nicht länger auszuhalten. Alle Warnungen waren vergessen, ich schwebte nun in den höchsten Himmeln - bis ich noch tiefer in den Abgrund stürzte. Es wurden wieder anonyme Briefe geschrieben. Jetzt liess mir der alte Herr sagen, ich solle mich vor der Geistlichkeit in Acht nehmen. Er schien zu wissen, woher die Briefe kamen. Am gleichen Tag teilte mir der Religionslehrer Dr. Schuler mit, dass ich kein theologisches Stipendium mehr bekäme. Jetzt unterhielten sich auch schon die kleinen Kinder über uns. Es waren noch vier Wochen bis zu den grossen Ferien. Glücklicherweise brauchte ich nicht ungetröstet von dannen zu ziehen. Es erfüllte mich und sie mit Stolz, dass ich als Primus nach der Oberprima kam. Wenn sich nicht alles gegen mich verschwor, war auch das letzte Jahr noch auszuhalten.

Die Mutter ahnte, was sich in Rastatt abspielte. Mein Klavierspielen verriet mich. Ich hatte ein Lieblingslied, das meiner Stimmung entsprach. Heute weiss ich nur noch die Melodie, aber meine Mutter hörte auch den Text heraus. "Meinst Du denn, ich kann das Lied nicht auch?" sagte sie, indem sie leise ins Zimmer kam. Sie konnte einen so wundervoll anschauen, lächeln und - schweigen. Wie viele Mütter können das?

Ein Besuch von Frau Eckstein, mit Ungeduld erwartet, brachte die Nachricht, dass Anna und Beatrice jetzt viel miteinander zusammenkämen. Das Herz schlug mir bis zum Hals - sie wird doch nicht noch mehr sagen? Aber der Redestrom will kein Ende nehmen. Ich stand am Fenster neben dem Klavier, als ob die ganze Geschichte mich nichts anginge. Väter sind blind, aber Mütter sind taub wenn sie nichts merken wollen.

Das neue Schuljahr brachte im Personenstand keine grundstürzenden Änderungen. Der Direktor übernahm von Zürn das Latein, von Nürnberger einen Teil des Griechischen, sonst blieb alles beim Alten. Als neuer Oberprimaner erschien Beatricens Bruder Karl, längst erwartet, aber nicht gerade mit Begeisterung empfangen. Es kam mir bald schmerzlich zum Bewusstsein, dass die Zeit der Schäferstunden ihrem Ende entgegenging. Der Bruder war 21 Jahre alt und hatte schon manchen Sturm erlebt; ich zählte 16. Ich war ein Kind in seinen Augen. Er war noch keine Woche da, so bekam ich einen Ausschnitt aus seinem Lebensroman erzählt. Es war klar worauf er hinaus wollte, aber noch blühten die Rosen, noch lachten zwei Augen und versprachen jede Seligkeit.

Schon in Unterprima hatte ich mir den Kopf zerbrochen, wie ich am schnellsten zu Amt und Würden und zu einer bezahlten Stellung kommen könne. Eine Zeitlang dachte ich an das Forstfach, doch wäre ich ein schlechter Jäger geworden. Dann wollte ich Chemiker werden, denn das schien ein sehr einträglicher Beruf zu sein. Schliesslich gab ich Naturwissenschaften als mein Studium an, ohne recht zu wissen, wo hinaus ich damit wollte. Je mehr ich grübelte und über unser Verhältnis nachdachte, desto klarer wurde mir, dass ich unerfüllbaren Träumen nachjagte. Ich begann, den Reichtum und die gesellschaftliche Stellung der Familie als unüberwindliche Schranke zu empfinden. Was konnte ich armer Teufel bieten! Konnte ich glauben, das ein verwöhntes und von allen Seiten umworbenes Mädchen noch zehn Jahre auf mich warten würde? Ich fühlte deutlich, dass auch drüben auf der anderen Seite nicht mehr alles in Ordnung war. Offenbar wurde über den lächerlichen Fall zwischen dem Bruder und meinen Freunden verhandelt, und es wäre ein Wunder gewesen, wenn Beatrice allen Einwirkungen von der Familie her getrotzt hätte. Was mich in allen Tiefen aufgewühlt hatte, war ihr doch wohl mehr ein netter Zeitvertreib gewesen. Einer meiner Klassenkameraden verglich mich mit Weislingens Buben Franz und sie mit Adelheid. Ich konnte ihm nicht ganz Unrecht geben.

Nach den Weihnachtsferien brach alles zusammen; ich brauche weiter keine Einzelheiten zu erzählen. Bald tat sich auch zwischen mir und den Brüdern Pauli eine Kluft auf, die bisher nicht so sichtbar gewesen war. Sie waren ganz und gar auf Lebensgenuss und theoretischen Materialismus eingestellt. Robert tat sich viel auf ein Wissen zugut, das er aus Carus Sternes Werden und Vergehen geschöpft hatte, und betrachtetet die ganze Gymnasialbildung, Literatur, Sprachen und alles, was nicht Gewinn abwarf, als lächerliche Zeitvergeudung. Konrad war massvoller in seinen Äusserungen, aber im Grunde doch der gleichen Meinung. Ich kämpfte wie ein Löwe um den idealen Sinn der vom Gymnasium vermittelten Bildung, ohne etwas anderes zu erreichen, als für rückständig und weltfremd verzollt zu werden.

Ob ich geistig rückständig war, darüber stand einem Untersekundaner kein Urteil zu. Aber weltfremd war ich ohne Zweifel, wenn man darunter, wie billig, die Welt der grossen Gehälter verstand. Ich sah, dass dem Sprössling eines Fabrikdirektors der Sohn eines Schulmeisters auch mit den besten Leistungen nicht imponieren konnte. Ich verstand, dass man mich zwar zu allerlei Diensten gern in Anspruch nahm, dass ich aber meiner Herkunft nach nicht gesellschaftsfähig war. Ich begriff, dass einer, der infolge vorsichtiger Wahl seiner Eltern schon oben auf dem Berge sass, leicht auf den herabsehen konnte, der den Berg erst im Schweisse seines Angesichts ersteigen musste. Und ich begriff, dass es eine Anmassung war, nur auf Grund eigener Leistungen in einen Kreis eindringen zu wollen, in den andere vielleicht auch erst durch entsprechende Leistungen gelangt waren.

Aber ich entdeckte auch, dass ich mich um das alles gar nicht zu kümmern brauchte. Ich entdeckte einen Stolz und einen Trotz, den ich mir bis dahin nie zugetraut hatte. Nunquam retrorsum - niemals zurück! Mit diesem Wahlspruch schied ich von der Schule: mochte kommen, was kommen wollte.

Die Annäherung zwischen meiner Haustochter und Beaterice, von der ich in den grossen Ferien Kunde erhielt, hatte mir im September ein paar glückliche Stunden geschenkt. Wir machten an einem Nachmittag ein grosses Konzert, bei dem ich meine Kunst und meine musikalische Eingebungen zum Besten geben konnte. Es blieb aber meinen Hausleuten auch nicht lange verborgen, dass eine Krise eintrat und ich um meine Liebe einen hoffnungslosen Kampf kämpfte. Ich weiss noch, als ob es erst gestern gewesen wäre, wie der Wallmeister eines Tags bei einer Tasse Kaffee von eigenen Jugenderlebnissen zu erzählen begann, von vergeblichen Hoffnungen und gebrochenen Versprechen. Ich möchte ihm nicht übel nehmen, wenn er davon rede, aber er wisse ja, wie mir zu Mut sei. Die Schwüre taugten alle nichts, da heisse es: aus den Augen - aus dem Sinn, ich müsse versuchen, darüber wegzukommen. Es war rührend wie er es verstand, mit seiner väterlichen Güte aufzurichten und die Gedanken abzulenken.

Als Beatrice Ostern 1884 in das Graue Kloster in Baden-Baden geschickt wurde, um dort wie ihre ältere Schwester und andere Freundinnen den letzten Schliff vor dem Eintritt ins Leben zu erhalten, glaubte ich, dass ich sie zum letzten Mal gesehen hätte. Aber das war nicht das Schlimmste. Wie stand es um meinen Freund Emil, der sich in hoffnungsloser Leidenschaft verzehrt hatte, während ich im Glück schwelgte? Ich verfiel der Selbstquälerei und Verzweiflung, die nur durch den Zwang zu schärfster Arbeit - das Abitur stand ja bevor - zu verdrängen war. Die mündliche Prüfung wurde so früh angesetzt, dass wir noch vier Wochen Mauleselsfreiheit geniessen durften. Unvergessliche Tage, in denen Emil und ich uns als Freunde wiederfanden, um uns doch nur wieder trennen zu müssen.

Die Schrecken der Reifeprüfung hatten die Klasse noch einmal zu einer Arbeitsgemeinschaft zusammengeschmiedet, die in jeder Hinsicht ihren Zweck erfüllte. Ein grosser Kommers, an dem Professoren, Beamte und Militärs, Eltern und Freunde teilnahmen, beschloss unsere Rastatter Laufbahn. Wir hatten eine Urkunde drucken lassen, worin geschrieben stand, dass wir nach 10 Jahren alle wieder in Rastatt zusammenkommen wollten. Vergebliche Hoffnungen! Wir wussten noch nicht, wie schnell uns das Leben für immer auseinanderreissen würde. So lange man in der gleichen Klasse sass, und Tag für Tag dem gleichen Zwang unterworfen war, blieb die Einheit des Daseins gewahrt. Schon die Berufswahl war von der sozialen Stellung, den Mitteln und der Tradition des Elternhauses nicht weniger bestimmt als von persönlicher Neigung und Begabung. In dem Augenblick wo sich das Tor der Schule hinter uns schloss und wir in alle Winde auseinanderstoben, war das Ende da.

Ich war mit einem glänzenden Zeugnis entlassen worden. Dass ich trotzdem weder Preis noch Lob erhielt, ist mir damals nicht besonders wichtig gewesen. Vielleicht glaubte man, ich hätte noch mehr leisten können, wenn ich in Unterprima keinen so unmoralischen Lebenswandel geführt hätte. Vielleicht war der Umstand daran Schuld, dass ich kurz vor dem Abitur eine Karzerstrafe absitzen musste, die ich mir in Vertretung des wahren Missetäters auf den Hals geladen hatte.

Der Direktor hatte mir zugeredet, klassische Philologie zu studieren. Follenius meinte, ich wäre besser für Mathematik geeignet. Mein Vater glaubte, ich könnte beides zusammen studieren. Für mich selber hatte es nichts verlockendes in den Spuren Seidenadels zu wandeln. Ein leidenschaftliches Verlangen, mir die geistige Welt der Gegenwart zu erobern, trieb mich zur Philosophie und Naturwissenschaft.

Ich hatte niemals das Gefühl, dass das Gymnasium Feind meiner Begabung gewesen sei. Ich war in keiner Weise an der Entfaltung meiner Talente oder an der Entwicklung meiner persönlichen Wesensart gehindert worden. Andere mögen andere Erfahrungen gemacht haben; ich kann nur mit unendlichem Dank an meine Rastatter Jahre zurückdenken.


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© Julius Ruska 1937