Als
wir uns nach den Ferien in dem schönen grossen
Klassenzimmer der Unterprima sammelten, waren wir auf
neun Männlein zusammengeschmolzen. So klein war die
Schülerzahl einer Prima seit Menschengedenken nicht
mehr gewesen. Wieder waren einige hängen geblieben,
andere hatten die Schule verlassen, weil sie für
ihren künftigen Beruf mit Primareife auskamen, Max
Krieg war als künftiger Theologe von seinen
Verwandten in das Freiburger Knabenkonvikt verpflanzt
worden, wo er weniger leicht Seitensprünge machen
konnte. Was noch übrig blieb, war nach Lebensart und
Anschauungen in kleine Gruppen geschieden. Drei wohnten
bei ihrem Eltern. Dietrich in Plittersdorf, Niedereder in
Kuppenheim, Eiche in Rastatt selbst, als einziger in der
Stadt aufgewachsener Mitschüler. Drei andere, die
erst in Obersekunda eingetreten waren, Fentzling,
Neukirch und Gerlach, wohnten in der Gegend der roten
Häuser, dem von Hansjakobs Schilderungen her
bekannten Studentenviertel. Sie hielten wie die Kletten
zusammen und trieben alles, was verboten war. Zwei waren
Schwarzwälder, Gerlach kam aus Dallau im Bauland und
hatte bisher das Gymnasium in Tauberbischofsheim besucht.
Fentzling war ein Riese an Gestalt und Kräften,
schwarzhaarig und rotbackig, mit einer spitzen Nase und
blitzenden schwarzen Augen, gewalttätig und
unheimlich, wenn er zuviel getrunken hatte. Neukirch war
ein geniales Sumpfhuhn, doch auch im entrückten
Zustand noch erträglich und bei allen beliebt.
Gerlach hatte sich schon in Obersekunda durch seine
überlegene Philologie an die Spitze der Klasse
gesetzt; ein scharfsinniger, kühler Kopf, ehrgeizig
und arbeitsam, passte er doch in sonstiger Hinsicht recht
gut zu den beiden anderen. Die letzten drei waren Pauli,
May und ich, ein Rest, der sich fast mit Notwendigkeit in
engerer Freundschaft zusammenfand.
Auch
im Lehrerkollegium waren durch Pensionierung und
Versetzung starke Änderungen eingetreten. Nach
Rivolas Wegzug war Follenius in die freigewordene Wohnung
im Gymnasium gekommen. Es war die vornehmste der drei
Professorenwohnungen, die in dem alten Piaristenkloster
zur Verfügung standen, eine Treppe hoch im Hauptbau
gelegen, und durch einen Glasverschluss vor profanen
Blicken geschützt. Zwei Treppen hoch wohnten Rapp
und Kremp. Im rechten Flügel war die Wohnung des
Direktors, im linken die des Studienfondsverwalters, in
dessen Amtszimmer man das Schulgeld bezahlen musste. Nach
Rapps Pensionierung zog Zürn in die Wohnung. An die
Frauen der Professoren habe ich nicht die leiseste
Erinnerung, von den Kindern wüsste ich mehr zu
erzählen. Follenius hatte damals einen kleinen Sohn
Chäorch, den er sichtlich vom gemeinen Haufen fern
hielt, Kremp ausser einem erwachsenen Sohn zwei Buben von
fünf Jahren, die auf dem Platz vor dem Gymnasium zu
spielen pflegten. Der Direktor Kuhn war mit einem Sohn
und einer Tochter gesegnet, die an Länge ihres
Vaters würdig waren.
Als
Ersatz für Rivola war ein preussischer Neuphilologe
namens Steinhauer an die Schule gekommen. Er wurde
hauptsächlich in Sexta und Quinta beschäftigt,
bekam aber auch das Französische in Prima
übertragen. Ein kleines, stark von sich und seinen
Leistungen eingenommenes Männlein, hatte er bald ein
paar Spitznamen weg. Mit seiner Autorität war es
nicht weit her, obgleich er sich redlich Mühe gab,
den Mangel an Grösse durch energisches Auftrumpfen
wett zu machen. Rapps Nachfolger wurde ein Professor
Behrle, mit dem wir nichts mehr zu tun hatten. Auch der
Musiklehrer Bender, der seit 1852 an der Schule
tätig gewesen war, schied jetzt aus; er wurde
einstweilen durch den Organisten Lang von der Stadtkirche
ersetzt. Für den an das Heidelberger Gymnasium
versetzten Both wurde der geistliche Professor Dr.
Schuler aus Donaueschingen der Anstalt zugewiesen; mit
ihm werde ich mich später noch zu befassen
haben.
Bei
uns hatten jetzt die besten Lehrer - Zürn,
Nürnberger und Follenius - fast den ganzen
Unterricht in Händen. Zürn gab als Ordinarius
Latein, Deutsch und Psychologie, Nürnberger
Griechisch und Deutsch. Das war eine vorzügliche
Mischung, und ich muss sagen, wenn wir jemals den Sinn
des humanistischen Bildungsideals begriffen haben, so ist
es in Unterprima gewesen. Die Einzelheiten werde ich
nachholen, wenn ich auf die ganze gymnasiale Erziehung zu
sprechen komme. Vorerst gilt es, über andere Dinge
zu berichten.
Es
lag etwas in der Luft, Geisterflüstern, Feenzauber,
Rauschen von Engelsfittichen - wer weiss, was um mich
vorging - ich zog mein Tagebuch aus dem Winkel hervor und
begann aufzuschreiben, was ich der Erinnerung wert fand -
Spaziergang mit Emil, Besuche bei Konrad, Begegnungen mit
Frieda. Ich war bis dahin noch nie in Konrads Wohnung
gewesen; es war ja auch kein Anlass, uns gegenseitig auf
den Buden zu besuchen, wenn wir täglich in der
Schule beisammen waren. Noch weniger hatte ich mich um
die Familie gekümmert, bei der er wohnte. Ich wusste
nur, dass ein Obereinnehmer ein grosses Tier war, und
dass der Sohn Karl, dessen aristokratische Erscheinung
auf mich schon in Obertertia einen tiefen Eindruck
gemacht hatten, jetzt irgendwo als Apotheker tätig
war.
In
den grossen Ferien hatte Emil entdeckt, dass in dem Hause
des Obereinnehmers auch noch ein paar hübsche Kinder
mit dicken blonden Zöpfen wohnten. So ergab sich
bald, dass wir bei gemeinsamen Bummeln die Herrenstrasse
zur Operationsbasis wählten und auch unserem Freunde
Konrad öfters Besuche machten. Er war drei Jahre
älter als ich und anderthalb Jahre als Emil, an
Lebenserfahrung uns schon durch seine Herkunft weit
voraus, ein stiller und ernster, vielleicht ein wenig
ironischer Mensch, unbedingt zuverlässig und von
vornehmer Gesinnung, so dass ich mit einem Gemisch von
Respekt und Zuneigung an ihm hing. Nun war auch sein
Stiefbruder Robert mit ihm gekommen, um in Obertertia
einzutreten. Da er kaum ein Jahr jünger war als ich
und wir bald in der Musik gemeinsame Interessen
entdeckten, dauerte es nicht lange, bis auch wir gute
Freunde wurden. Robert war ein hochbegabter Mensch, auch
durch äussere Vorzüge ausgezeichnet, deren sich
der untersetzte, sommersprossige Konrad nicht rühmen
konnte, aber ein Leichtfuss dem die glänzenden
Verhältnisse seiner Eltern nicht zum Segen
gereichten.
Von
den drei Grazien, die zur Z.'schen Familie gehörten,
war Klärchen zu jung und Maria zu ernst; die
mittlere aber, der wir den Hof machten, war gleich auch
die Schönste und hatte Verständnis für
verliebte Studentenbuben.
Bis
Weihnachten war es bei einem allgemeinen Geplänkel
geblieben. Als Freunde der Brüder Pauli durften wir
grüssen und wurden gegrüsst - Seligkeit genug
für ein Vierteljahr. Die Weihnachtsferien bedeuteten
die erste Trennung. Nun verstand ich endlich Schillers
Glocke. Es stimmte alles bis aufs Letzte, ich brauchte
Seidenadels Kommentar nicht mehr.
Bald
blühten neue Hoffnungen auf. Ein plötzliches
Tauwetter hatte gleich nach Weihnachten im ganzen
Rheingebiet Überschwemmungen verursacht. Auch
Rastatt wurde schwer heimgesucht; die Niederungen standen
noch unter Wasser, als ich zurückfuhr. Dann brach
neue Kälte ein und verwandelte die
überschwemmten Wiesen in weite Eisflächen.
Welch ein Fest konnte das werden, wenn wir zusammen
Schlittschuh liefen!
Ein
Konzert im Kronensaal brachte am 10. Januar das erste
Wiedersehen. Wir wussten, dass die ganze Familie kommen
würde. Kurz vor Beginn der Vorstellung spazierten
sie herein und nahmen in der vordersten Reihe Platz: der
Herr Obereinnehmer, freundlich und behäbig, mit
kurzem blondem Bart und goldener Brille, die gestrenge
Mama, stattlich und vornehm, die drei Töchter
festlich gekleidet, mit breiten Spitzkragen unter den
Zöpfen, ein wonnevoller Anblick.
Tags
darauf starb unerwartet, nach kurzem Kranksein, der
Direktor Kuhn. Da ich ihn noch nicht als Lehrer gehabt
hatte, blieb die Beteiligung an dem feierlichen
Leichenbegängnis ohne tieferen Eindruck. Schon am
Tage der Beisetzung war grosses Treffen auf dem
Schlittschuh-Platz am Kehler Tor. Wir hatten uns gleich
entdeckt und machten nicht viel Umwege, um
zusammenzukommen. Womit werden wir uns die Zeit
vertrieben haben? Erzählten wir uns vom Schulelend
oder anderen schrecklichen Dingen? Oder schwebten wir in
seligen Träumen über das Eis hin? Es war ein
unerhörtes Erlebnis - in dieser Nacht tat ich kein
Auge zu. Die Engel im Himmel konnten nicht
glücklicher sein. Am Tag darauf, es war ein Sonntag,
erfuhren wir, dass Konrad mit Beatrice auf den Rheinauer
Wiesen Schlittschuh fahren würde. Wir erwarteten
beide am Bauhof und zogen zu viert der Rheinau zu. Es
hatte seine Unbequemlichkeiten mit den Wiesen, wir
mussten unsere Mäntel zusammenlegen, um eine
Sitzgelegenheit zu schaffen, aber die freie Fahrt war
herrlich, und Konrad liess uns drei ungestört.
Drei
Wochen später war Fastnacht. Wir wussten ziemlich
sicher, dass uns Follenius als stellvertretender Direktor
den Dienstag Nachmittag freigeben würde. Jetzt galt
es die Narrenfreiheit zu nützen und allen
Möglichkeiten kühn ins Auge zu sehen. Fast die
ganze Prima und Obersekunda versah sich mit
Maskenanzügen. Emil hatte Weiss und Rot für
sein Bajazzo-Kostüm gewählt, ich war wie ein
Salamander geheimnisvoll in Schwarz und Gelb gekleidet.
Schon am Sonntag waren wir den ganzen Tag auf den Beinen,
am Dienstag erreichte der Trubel den Höhepunkt. Wir
trieben jeden Unfug, umzingelten die Alten und verfolgten
die Jungen, führten Indianertänze auf,
schenkten Veilchensträusse und liessen uns in den
Häusern mit Fastnachtskräppeln füttern. Am
Dienstag stürmten wir, etwa ein Dutzend an Zahl, die
Obereinnehmerei. Der Empfang konnte nicht herzlicher
sein, und auch wir liessen es nicht an Artigkeit fehlen.
Es gab unendliche Mengen Kräppel, und wir schlugen
vor, zum Dank dafür zu singen. Ich setzte mich ans
Klavier, die anderen auf den Boden. Ein Oberprimaner gab
auch noch ein Solo zum Besten. Dann schlug der alte Herr
vor, dass auch Maria und Beatrice singen und spielen
sollten. Es war himmlisch. Als wir unter endlosen
Komplimenten abzogen, wurden wir noch mit Zigarren
beschenkt. 25 Jahre später spielten sich bei Ruskas
in Heidelberg ähnliche Szenen ab. Ich dachte
vergangener Zeiten, die Kinder heulten fast, dass ihnen
die wüsten Gesellen alle Kräppel weggefressen
hatten. Es blieb uns nichts übrig, als eine neue und
verbesserte Auflage herauszugeben.
Der
Organist Lang war auf den schönen Gedanken
verfallen, zur Verstärkung des Kirchenchors Primaner
und höhere Töchter beizuziehen. Auch in der
Schlosskirche trafen wir uns zu diesen frommen
Übungen. Im übrigen blieb es bei Begegnungen
und gegenseitigen kleinen Geschenken. Von Herrn Eckstein
erfuhr ich, wo im Festungsbereich die schönsten
Veilchen wuchsen. Ich war im Lied von der Glocke wiederum
ein paar Zeilen weitergekommen.
Die
Osterferien rückten heran, zum zweitenmal eine
schreckliche Trennung. Ich hatte versprochen, zu ihrem
grossen Fest am Weissen Sonntag in der Kirche zu
erscheinen. Aber unter welchem Vorwand solle ich von zu
Hause wegkommen? Ich brachte das Opfer, auf eine Fahrt
nach Strassburg zu verzichten, wohin wir alle zu dem
gleichen Fest geladen waren, und dampfte schon Samstags
nach Rastatt ab. Am Sonntag wohnte ich der Feier bei,
tief in fromme Gedanken versunken. Am Montag war mir
schon wieder weltlicher zu Mut. Robert hatte mir
erzählt, Beatrice hätte gern von mir ein
Andenken an diesen Tag. Ich opferte meine ganz Barschaft
und kaufte ihr ein silbernes Kreuz. Von meinem Freund und
Mitbewerber war damals schon lange nicht mehr die Rede.
Warum das Schicksal zu meinen Gunsten entschied, ist
schwer zu sagen. War es, weil der jüngere Pauli sich
auf meine Seite geschlagen hatte und ich durch ihn jeder
Zeit Botschaften an sie gelangen lassen konnte? Hatte er
den ohnehin schon stürmischen Freier zu solcher
Leidenschaft aufgepeitscht, dass er den stilleren
Liebhaber aus dem Feld schlug?
Mitte
April wurde ich durch Konrad zu einem Spaziergang nach
Muggensturm eingeladen. Der alte Herr hatte dort
dienstlich zu tun und nahm seine Tochter und ihre
Freundin, Konrad und mich als Begleiter mit. Wollte er
mich etwas mehr in Augenschein nehmen? Wollte er mich auf
die Probe stellen? Ich hätte dem guten Mann um den
Hals fallen können: lieber aber noch seinem
Töchterlein, das mir zu der Einladung verholfen
hatte.
Am
folgenden Sonntag feierten die Markomannia in Sinsheim
ihr Stiftungsfest. Mützen zu tragen war längst
verboten, aber die Verbindung bestand weiter, und es war
für die alten Sueven Ehrensache, der Fahne treu zu
bleiben. Die geistlich gerichtete Oberprima war der alte
Stamm, aber auch die Unterprima war fast vollzählig
vertreten. Konrad beteiligte sich nur als Konkneipant,
angeblich aus Gesundheitsrücksichten, in Wahrheit,
weil ihm dieses ganze Treiben zu dumm war.
Die
Schule hatte an Ostern einen neuen Direktor erhalten. Dr.
E. Oster war denen, die die Unterklassen besucht hatten,
nicht unbekannt, denn er war von 1869-1879 am Gymnasium
Professor und seit 1877 auch Rektor der städtischen
Schulen gewesen. Diese Tätigkeit war das Sprungbrett
zu seinem ersten Direktorposten am Progymnasium in
Tauberbischofsheim und am Lehrerseminar in Ettlingen. Von
seiner jetzigen Stelle aus konnte er höchstens noch
Oberschulrat und Geheimer Hofrat werden. Auch dieser
Traum ging dem ehrgeizigen Mann in
Erfüllung.
Wer
ihn zum ersten Mal sah, konnte ihn für einen
wüsten Demokraten halten. Eine sympathische
Erscheinung war er nicht. Das fahle Gesicht von einem
ungepflegten struppigen Schnurrbart à la Nietzsche
verborgen, eine unschöne eingedrückte Nase,
stechende Augen, hinter einer goldenen Brille verborgen -
das war der Kopf, der aus den grauen Kleidern
herausschaute. Dass der Mann überall herumschlich
und unvermutet auftauchte, machte ihn uns auch nicht
sympathischer. Wer hätte nach der äusseren
Erscheinung auf die Vermutung kommen können, dass
der neue Direktor - ein katholischer Geistlicher war? Wie
erstaunt war ich aber erst, als er sich gelegentlich nach
meinem Vater erkundigte und sich herausstellte, dass er
kein anderer war als jener klerikale Heißsporn, der
ihm in Bühl einst so aufsässig gewesen war. Die
Zeiten hatten sich geändert, der Wind hatte sich
gedreht. Im Kirchendienst musste man ultramontan sein, im
Staatsdienst musste man der liberalen Richtung huldigen,
wenn man vorwärts kommen wollte. Der Geistliche war
nur noch an der Tonsur zu erkennen; der Direktor gab sich
liberal. Dass er liberal sei, hörte ich aus seinem
eigenen Munde; vielleicht sollte ich meinem Vater die
frohe Botschaft bringen, damit er sich über die
Zukunft seines Sprösslings keine unnötigen
Sorgen machte.
Der
Mai war gekommen, das Bummeln und die Besuche bei Paulis
nahmen kein Ende. Hatte seit Fastnacht die Schule
Kenntnis von meinem holden Wahn, so wusste jetzt die
ganze Stadt Bescheid. War es ein Wunder, dass nun die
frommen Leute anfingen, sich um unser Seelenheil Sorgen
zu machen? Man setzte die Geistlichkeit in Bewegung, man
schrieb anonyme Briefe an den Direktor. Auch das
Sinsheimer Stiftungsfest mit allem Drum und Dran war
verraten worden. Ich wurde zum Stadtpfarrer Ruth zitiert,
der mir das mitteilte und dringend vor den
unvermeidlichen Folgen warnte. Ruth war ein dicker Herr
mit einem nicht ohne Grund roten Kopf, der mich
persönlich kannte, weil ich einem bei ihm wohnenden
Pensionär eine Zeitlang Mathematikstunden gab. Man
sah dem Pfarrer an, dass er uns allen gern helfen wollte.
Auch Vater Z., dem der Direktor die Briefe gezeigt hatte,
liess mir sagen, ich möchte es nicht zu arg treiben.
Am andern Tag sprach er mich auf der Strasse selber an.
Es seien drei Briefe mit verschiedenen Handschriften,
einer berühre ihn sogar persönlich. Er glaube
den Schreiber zu kennen; wer anonyme Briefe schreibe, sei
ein Hund, der Prügel verdiene. Das war Musik
für meine Ohren. Am gleichen Tag wurde ich mit
Konrad zum Direktor befohlen. Das konnte ja nett werden!
Aber nichts geschah, wir wurden nur wegen eines Ulks, den
wir uns mit dem Pedell erlaubt hatten, zur Rede gestellt
und erhielten einen Tag Wirtshausverbot. In den
Pfingstferien wurde mir zu Hause vom Pfarrverweser Hundt
wegen der Markomannia schwer zugesetzt. Ich musste das
Versprechen geben, auszutreten, und konnte Gott danken,
dass mein Vater von all diesen Dingen nichts erfuhr. Nach
Rastatt zurückgekehrt besprach ich die Lage mit
meinem Leibburschen. Ich galt als ausgetreten, die
Verbindung wurde aber erst im Juli aufgelöst, als in
Folge scharfer Massregeln von Karlsruhe her kein anderer
Ausweg mehr möglich war. Ich erinnere mich noch gar
gut an die Geheimsitzung, die in einer bei
Niederbühl einsam am Murgdamm gelegenen Kneipe
stattfand. Schläger, Wappen, Mützen,
Kommersbücher, die ganze bewegliche Habe wurde bis
auf bessere Zeiten auf dem Speicher des Fuchsmajors oder
vielmehr seines Vaters, des Mehlhändlers Kaufmann,
untergebracht. Ich war der letzte Bursch gewesen, der das
Schwarz-Weiss-Grüne Band trug.
Der
Mai ging dahin, die Zeit der Rosen war gekommen. Was
für herrliche Rosen wuchsen in dem kleinen Garten
des Obereinnehmers! Ein ganzes grosses Beet mit
hochstämmigen Rosen in allen Farben, dunkeln und
rosenroten, gelben und weissen - konnte ich da
unbeschenkt bleiben? Es gab keinen Sonntag, an dem ich
nicht oben bei meinen Freunden sass, an den wir uns nicht
trafen und in die Augen schauten, auch wenn die alte
Karline noch eifrig Wache stand.
Waren
die Rosen nicht die Verheissung von noch
köstlicheren Geschenken? Man musste nur den Mut
haben, sie sich selber zu holen. Der Zustand war nicht
länger auszuhalten. Alle Warnungen waren vergessen,
ich schwebte nun in den höchsten Himmeln - bis ich
noch tiefer in den Abgrund stürzte. Es wurden wieder
anonyme Briefe geschrieben. Jetzt liess mir der alte Herr
sagen, ich solle mich vor der Geistlichkeit in Acht
nehmen. Er schien zu wissen, woher die Briefe kamen. Am
gleichen Tag teilte mir der Religionslehrer Dr. Schuler
mit, dass ich kein theologisches Stipendium mehr
bekäme. Jetzt unterhielten sich auch schon die
kleinen Kinder über uns. Es waren noch vier Wochen
bis zu den grossen Ferien. Glücklicherweise brauchte
ich nicht ungetröstet von dannen zu ziehen. Es
erfüllte mich und sie mit Stolz, dass ich als Primus
nach der Oberprima kam. Wenn sich nicht alles gegen mich
verschwor, war auch das letzte Jahr noch
auszuhalten.
Die
Mutter ahnte, was sich in Rastatt abspielte. Mein
Klavierspielen verriet mich. Ich hatte ein Lieblingslied,
das meiner Stimmung entsprach. Heute weiss ich nur noch
die Melodie, aber meine Mutter hörte auch den Text
heraus. "Meinst Du denn, ich kann das Lied nicht auch?"
sagte sie, indem sie leise ins Zimmer kam. Sie konnte
einen so wundervoll anschauen, lächeln und -
schweigen. Wie viele Mütter können
das?
Ein
Besuch von Frau Eckstein, mit Ungeduld erwartet, brachte
die Nachricht, dass Anna und Beatrice jetzt viel
miteinander zusammenkämen. Das Herz schlug mir bis
zum Hals - sie wird doch nicht noch mehr sagen? Aber der
Redestrom will kein Ende nehmen. Ich stand am Fenster
neben dem Klavier, als ob die ganze Geschichte mich
nichts anginge. Väter sind blind, aber Mütter
sind taub wenn sie nichts merken wollen.
Das
neue Schuljahr brachte im Personenstand keine
grundstürzenden Änderungen. Der Direktor
übernahm von Zürn das Latein, von
Nürnberger einen Teil des Griechischen, sonst blieb
alles beim Alten. Als neuer Oberprimaner erschien
Beatricens Bruder Karl, längst erwartet, aber nicht
gerade mit Begeisterung empfangen. Es kam mir bald
schmerzlich zum Bewusstsein, dass die Zeit der
Schäferstunden ihrem Ende entgegenging. Der Bruder
war 21 Jahre alt und hatte schon manchen Sturm erlebt;
ich zählte 16. Ich war ein Kind in seinen Augen. Er
war noch keine Woche da, so bekam ich einen Ausschnitt
aus seinem Lebensroman erzählt. Es war klar worauf
er hinaus wollte, aber noch blühten die Rosen, noch
lachten zwei Augen und versprachen jede
Seligkeit.
Schon
in Unterprima hatte ich mir den Kopf zerbrochen, wie ich
am schnellsten zu Amt und Würden und zu einer
bezahlten Stellung kommen könne. Eine Zeitlang
dachte ich an das Forstfach, doch wäre ich ein
schlechter Jäger geworden. Dann wollte ich Chemiker
werden, denn das schien ein sehr einträglicher Beruf
zu sein. Schliesslich gab ich Naturwissenschaften als
mein Studium an, ohne recht zu wissen, wo hinaus ich
damit wollte. Je mehr ich grübelte und über
unser Verhältnis nachdachte, desto klarer wurde mir,
dass ich unerfüllbaren Träumen nachjagte. Ich
begann, den Reichtum und die gesellschaftliche Stellung
der Familie als unüberwindliche Schranke zu
empfinden. Was konnte ich armer Teufel bieten! Konnte ich
glauben, das ein verwöhntes und von allen Seiten
umworbenes Mädchen noch zehn Jahre auf mich warten
würde? Ich fühlte deutlich, dass auch
drüben auf der anderen Seite nicht mehr alles in
Ordnung war. Offenbar wurde über den
lächerlichen Fall zwischen dem Bruder und meinen
Freunden verhandelt, und es wäre ein Wunder gewesen,
wenn Beatrice allen Einwirkungen von der Familie her
getrotzt hätte. Was mich in allen Tiefen
aufgewühlt hatte, war ihr doch wohl mehr ein netter
Zeitvertreib gewesen. Einer meiner Klassenkameraden
verglich mich mit Weislingens Buben Franz und sie mit
Adelheid. Ich konnte ihm nicht ganz Unrecht
geben.
Nach
den Weihnachtsferien brach alles zusammen; ich brauche
weiter keine Einzelheiten zu erzählen. Bald tat sich
auch zwischen mir und den Brüdern Pauli eine Kluft
auf, die bisher nicht so sichtbar gewesen war. Sie waren
ganz und gar auf Lebensgenuss und theoretischen
Materialismus eingestellt. Robert tat sich viel auf ein
Wissen zugut, das er aus Carus Sternes Werden und
Vergehen geschöpft hatte, und betrachtetet die ganze
Gymnasialbildung, Literatur, Sprachen und alles, was
nicht Gewinn abwarf, als lächerliche Zeitvergeudung.
Konrad war massvoller in seinen Äusserungen, aber im
Grunde doch der gleichen Meinung. Ich kämpfte wie
ein Löwe um den idealen Sinn der vom Gymnasium
vermittelten Bildung, ohne etwas anderes zu erreichen,
als für rückständig und weltfremd verzollt
zu werden.
Ob
ich geistig rückständig war, darüber stand
einem Untersekundaner kein Urteil zu. Aber weltfremd war
ich ohne Zweifel, wenn man darunter, wie billig, die Welt
der grossen Gehälter verstand. Ich sah, dass dem
Sprössling eines Fabrikdirektors der Sohn eines
Schulmeisters auch mit den besten Leistungen nicht
imponieren konnte. Ich verstand, dass man mich zwar zu
allerlei Diensten gern in Anspruch nahm, dass ich aber
meiner Herkunft nach nicht gesellschaftsfähig war.
Ich begriff, dass einer, der infolge vorsichtiger Wahl
seiner Eltern schon oben auf dem Berge sass, leicht auf
den herabsehen konnte, der den Berg erst im Schweisse
seines Angesichts ersteigen musste. Und ich begriff, dass
es eine Anmassung war, nur auf Grund eigener Leistungen
in einen Kreis eindringen zu wollen, in den andere
vielleicht auch erst durch entsprechende Leistungen
gelangt waren.
Aber
ich entdeckte auch, dass ich mich um das alles gar nicht
zu kümmern brauchte. Ich entdeckte einen Stolz und
einen Trotz, den ich mir bis dahin nie zugetraut hatte.
Nunquam retrorsum - niemals zurück! Mit diesem
Wahlspruch schied ich von der Schule: mochte kommen, was
kommen wollte.
Die
Annäherung zwischen meiner Haustochter und
Beaterice, von der ich in den grossen Ferien Kunde
erhielt, hatte mir im September ein paar glückliche
Stunden geschenkt. Wir machten an einem Nachmittag ein
grosses Konzert, bei dem ich meine Kunst und meine
musikalische Eingebungen zum Besten geben konnte. Es
blieb aber meinen Hausleuten auch nicht lange verborgen,
dass eine Krise eintrat und ich um meine Liebe einen
hoffnungslosen Kampf kämpfte. Ich weiss noch, als ob
es erst gestern gewesen wäre, wie der Wallmeister
eines Tags bei einer Tasse Kaffee von eigenen
Jugenderlebnissen zu erzählen begann, von
vergeblichen Hoffnungen und gebrochenen Versprechen. Ich
möchte ihm nicht übel nehmen, wenn er davon
rede, aber er wisse ja, wie mir zu Mut sei. Die
Schwüre taugten alle nichts, da heisse es: aus den
Augen - aus dem Sinn, ich müsse versuchen,
darüber wegzukommen. Es war rührend wie er es
verstand, mit seiner väterlichen Güte
aufzurichten und die Gedanken abzulenken.
Als
Beatrice Ostern 1884 in das Graue Kloster in Baden-Baden
geschickt wurde, um dort wie ihre ältere Schwester
und andere Freundinnen den letzten Schliff vor dem
Eintritt ins Leben zu erhalten, glaubte ich, dass ich
sie zum letzten Mal gesehen hätte. Aber das war
nicht das Schlimmste. Wie stand es um meinen Freund Emil,
der sich in hoffnungsloser Leidenschaft verzehrt hatte,
während ich im Glück schwelgte? Ich verfiel der
Selbstquälerei und Verzweiflung, die nur durch den
Zwang zu schärfster Arbeit - das Abitur stand ja
bevor - zu verdrängen war. Die mündliche
Prüfung wurde so früh angesetzt, dass wir noch
vier Wochen Mauleselsfreiheit geniessen durften.
Unvergessliche Tage, in denen Emil und ich uns als
Freunde wiederfanden, um uns doch nur wieder trennen zu
müssen.
Die
Schrecken der Reifeprüfung hatten die Klasse noch
einmal zu einer Arbeitsgemeinschaft zusammengeschmiedet,
die in jeder Hinsicht ihren Zweck erfüllte. Ein
grosser Kommers, an dem Professoren, Beamte und
Militärs, Eltern und Freunde teilnahmen, beschloss
unsere Rastatter Laufbahn. Wir hatten eine Urkunde
drucken lassen, worin geschrieben stand, dass wir nach 10
Jahren alle wieder in Rastatt zusammenkommen wollten.
Vergebliche Hoffnungen! Wir wussten noch nicht, wie
schnell uns das Leben für immer auseinanderreissen
würde. So lange man in der gleichen Klasse sass, und
Tag für Tag dem gleichen Zwang unterworfen war,
blieb die Einheit des Daseins gewahrt. Schon die
Berufswahl war von der sozialen Stellung, den Mitteln und
der Tradition des Elternhauses nicht weniger bestimmt als
von persönlicher Neigung und Begabung. In dem
Augenblick wo sich das Tor der Schule hinter uns schloss
und wir in alle Winde auseinanderstoben, war das Ende
da.
Ich
war mit einem glänzenden Zeugnis entlassen worden.
Dass ich trotzdem weder Preis noch Lob erhielt, ist mir
damals nicht besonders wichtig gewesen. Vielleicht
glaubte man, ich hätte noch mehr leisten
können, wenn ich in Unterprima keinen so
unmoralischen Lebenswandel geführt hätte.
Vielleicht war der Umstand daran Schuld, dass ich kurz
vor dem Abitur eine Karzerstrafe absitzen musste, die ich
mir in Vertretung des wahren Missetäters auf den
Hals geladen hatte.
Der
Direktor hatte mir zugeredet, klassische Philologie zu
studieren. Follenius meinte, ich wäre besser
für Mathematik geeignet. Mein Vater glaubte, ich
könnte beides zusammen studieren. Für mich
selber hatte es nichts verlockendes in den Spuren
Seidenadels zu wandeln. Ein leidenschaftliches Verlangen,
mir die geistige Welt der Gegenwart zu erobern, trieb
mich zur Philosophie und Naturwissenschaft.
Ich
hatte niemals das Gefühl, dass das Gymnasium Feind
meiner Begabung gewesen sei. Ich war in keiner Weise an
der Entfaltung meiner Talente oder an der Entwicklung
meiner persönlichen Wesensart gehindert worden.
Andere mögen andere Erfahrungen gemacht haben; ich
kann nur mit unendlichem Dank an meine Rastatter Jahre
zurückdenken.