Für
die Festschrift zur 100-Jahr-Feier der Heidelberger
Oberrealschule mit Realgymnasium hat mein Vater einen
Beitrag "Die Schule unter Robert Salzer" geschrieben. Er
hatte zwischen 1880 und 1910 in der Kettengasse
Mathematik und Naturwissenschaften unterrichtet, sich
später aber vor allem als Historiker der islamischen
Naturwissenschaften hervorgetan. Durch seine "Tierkunde
in aufsteigender Darstellung", seine "Grundzüge der
Mineralogie", durch die "Geologischen Streifzüge in
Heidelbergs Umgebung" und besonders durch die
ausführliche "Methodik des
mineralogisch-geologischen Unterrichts" hat er einen
heute noch nachwirkenden Einfluß auf die
naturwissenschaftliche Ausbildung an höheren
Lehranstalten ausgeübt. Viele seiner Schüler
aus der frühen Zeit blieben ihr Leben lang mit ihm
befreundet. Dies alles würde aber noch nicht
rechtfertigen, alte Erinnerungen aufzufrischen, wenn der
Lebensweg meines Vaters nicht durch die gleichen Sorgen
und Bestrebungen gekennzeichnet wäre, die heute noch
Schule und Elternhaus betreffen und die jeden einzelnen
angehen, den eine besondere Begabung auf eine
ungewöhnliche berufliche Laufbahn führt.
Erziehung
und Unterricht lagen meinem Vater vom Elternhaus her am
Herzen. Schon mein Großvater Ferdinand Ruska war
als ein reichbegabter und vielseitiger Lehrer in Bernau
im Schwarzwald und in Bühl in Baden tätig. Hans
Thoma erzählt im "Winter des Lebens", daß er
seine Zeichenschule besuchte, und heute noch besitze ich
ein mit dem Datum vom 5.9.1860 signiertes Ölbild der
Innenansicht eines Schwarzwälder Stalls aus den
Händen von Hans Thoma. Weiter zurück findet
sich im Jahre 1748 in den Kirchenbüchern von
Grafenhausen, nicht weit vom Kaiserstuhl, die
Eheschließung des "honestus et perdoctus juvenis
Nicolaus Rusca, ludimagister" mit der Witwe des
vorherigen Schulmeisters verzeichnet. Beziehungen von
meinem Ur-Ur-Ur-Großvater Nicolaus Rusca zu dem
Porträtmaler Carlo Francesco Rusca (1696-1769) sind
vermutet worden, aber nicht erwiesen. Mein Vater ist dem
geschichtlichen Vorkommen des Namens Rusca, der sich
heute noch in der Südschweiz und in Oberitalien
findet, nachgegangen. Carlo Francesco war nicht der
einzige künstlerisch Begabte. Vierzehn weitere
Ruscas fand er als Architekten, Bildhauer und Maler im
Schweizerischen Künstlerlexikon verzeichnet. Vom
Erzpriester Nicolaus Rusca haben viele in Conrad
Ferdinand Meyers Roman Jürg Jenatsch gelesen. Um
1560 geboren, starb er 1618 den Märtyrertod. Zu
seinen Lebzeiten schrieb ein Zisterziensermönch
Roberto Rusca eine ins legendäre gehende Geschichte
des Namens, von der ein Exemplar in der Berliner
Staatsbibliothek existierte. Besondere Genugtuung empfand
mein Vater darüber, daß ein Julius Rusca
Erzpriester am Dom von Como war.
Um
sich mit den Sprachen vertraut zu machen, in denen die
heiligen Bücher der Weltreligionen geschrieben sind,
hatte mein Vater schon bevor er in den Lehrberuf für
die Naturwissenschaften eintrat, Hebräisch und
Arabisch studiert. Bei Rudolf Brünnow in Heidelberg
erweiterte er seine Kenntnisse auf Syrisch, Assyrisch und
Persisch. Nach dessen Weggang wurde Ernst Adalbert Merx
sein Lehrer.
Als
Früchte seiner ungewöhnlich vielseitigen
Kenntnisse erschienen noch vor der Jahrhundertwende erste
Beiträge zur Geschichte der Alchemie, aber seiner
inneren Berufung die volle Kraft zu widmen, blieb ihm
wegen wirtschaftlicher Notwendigkeiten und
bürokratischer Fesseln lange versagt.
Erst
als es nach dem Tode von Adalbert Merx - meinem
Großvater - notwendig wurde, dessen hinterlassenen
Schlußband über die syrischen, im
Sinai-Kloster gefundenen "vier kanonischen Evangelien"
druckfertig zu gestalten und der erteilte Urlaub hierzu
nicht ausreichte, entschloß sich mein Vater, den
Schuldienst aufzugeben. Mit einer Untersuchung über
das Steinbuch des Aristoteles, dessen syrisch-persische
Herkunft aus der persischen Prägung vieler Worte und
aus den Fundorten der Mineralien nachgewiesen wurde,
konnte er sich 1911 an der Heidelberger Universität
habilitieren.
Der
erste Weltkrieg und die Nachkriegszeit brachten ihn in
begrenztem Maße zum Schuldienst an das Gymnasium
zurück. Aber nach 1924 widmete er sich
ausschließlich dem Heidelberger Institut für
Geschichte der Naturwissenschaft und seit 1929 dem
Forschungsinstitut
für Geschichte der
Naturwissenschaften
in Berlin. Glück und Unglück einer großen
Familie begleiteten Jahre schwerster Arbeit. Viel zu
spät, erst mit weit über 50 Jahren, war es ihm
gelungen, seine volle Arbeitskraft zur Klärung der
kulturgeschichtlichen Zusammenhänge in der
Geschichte der Alchemie einzusetzen. Eine
zusammenfassende Darstellung des Übergangs und der
ständigen Veränderungen
chemisch-technologischer Kenntnisse und Spekulationen von
Griechenland nach Persien und mit der Ausbreitung des
Islams über Spanien nach Europa zu geben, war ihm
nicht mehr vergönnt.
Uns
Kindern blieb ein so vielbeschäftigter Vater meist
in seinen Studierzimmern verborgen. Trotzdem ergab sich
an Sonntagen und in den Ferien genügend Zeit zu
ausgedehnten Wanderungen mit Unterweisungen in Geologie,
Mineralogie und Botanik. Vorgeschichte und Geschichte
waren beliebte Gesprächsthemen, eine gelegentliche
Kontrolle von Schulaufgaben wurde dagegen weniger
geschätzt. Kam es, was selten war, zu tätlichen
Auseinandersetzungen zwischen meinem Bruder Ernst und
mir, so mußten wir neben dem Schreibtisch unseres
Vaters so lange zu zweit schweigsam auf einem Stuhl
sitzen, bis sich die Wogen der Erregung wieder
geglättet hatten.
In
seinem Aufsatz zur 100-Jahr-Feier unserer Schule
erzählt mein Vater, daß er die Verwendung des
Mikroskops, das vorher in den Instrumentenschrank der
Physik verbannt war, im naturgeschichtlichen Unterricht
durchsetzte. Zu Hause habe ich nie mit meinem Vater
mikroskopiert, aber Prof. Leiber gab uns neben einer
glänzenden Einführung in die Biologie im
Praktikum eine schon fast für das Physikum der
Mediziner ausreichende Unterweisung in Cytologie und
Histologie. Als sich in mir der Wunsch nach einem eigenen
Mikroskop regte, wurde er von meinem Vater gerne
erfüllt. Zehn Jahre später begann ich, das
Elektronenmikroskop meines Bruders Ernst und meines
Schwagers Bodo v. Borries in den Laboratorien der Siemens
& Halske AG für biologische Untersuchungen zu
verwenden.
Es
wird oft über zu viele Reformen an den Schulen
geklagt. Mein Vater gehörte zu den Reformern, die
eine gediegene Ausbildung in den Naturwissenschaften
für erforderlich hielten, obwohl er selbst zugleich
auch Humanist, Historiker und Philologe war. Er war sich
bewußt, daß nur sehr seltene Begabungen allen
Sätteln gerecht werden können und erkannte
vorausschauend den wachsenden Bedarf an
naturwissenschaftlich geschulten Anwärtern zum
Studium. Das Elternhaus erzog uns zur Achtung vor der
Schule und den Bemühungen der Lehrer, es gab uns
reiche Anregungen innerhalb und außerhalb der von
der Schule geforderten Arbeit, und ließ uns
später die Freiheit zu gewagten beruflichen
Spezialisierungen, denen kein vorgesehenes Amt winkte.
Zusammenarbeit zwischen Elternhaus und Schule, Erkennung
und Förderung der Begabten von der Schule bis in die
entscheidenden Positionen des späteren Lebens
dürften auch die Aufgabe sein, deren weise
Erfüllung zu den ersten Pflichten der menschlichen
Gesellschaft gehört.